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Der Gesang von Liebe und Hass

Titel: Der Gesang von Liebe und Hass
Autoren: Cordes Alexandra + Horbach Michael
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gelblichen Spitzenkragen, die sie sommers wie winters trugen.
    Sie waren die wahren Wächter, sie waren die ›Duenas‹, die Herrinnen, die über die Tugend der Mädchen mit ihren scharfen Blicken Wache hielten, keine aus den Augen lassend, nicht Maria Christinas Schwestern, Evita und Louisa, nicht ihre Freundinnen Inez und Mercedes und nicht sie selbst.
    Aber ihren ersten Kuß hatte Maria Christina doch dort unten erhalten, bei einer schnellen Drehung im Tanz, und es war ihr, als spüre sie noch die heißen, fordernden Lippen von damals.
    Herr, vergib mir, daß ich an die Welt denke, an die Freiheit, der ich für immer entsagen will.
    Herr, vergib mir, daß ich die Erinnerung noch in mir trage, aber sie wird meinen Glauben nicht vergiften, sie wird mich nicht in alle Ewigkeit begleiten, sie wird in mir verkümmern wie eine Pflanze, der man nicht genug Wasser und nicht genug Sonne gönnt.
    Maria Christina brauchte nur die Augen zu schließen, um nicht mehr das Licht zu sehen, nicht mehr zu spüren, daß ihre Beine lang und schlank waren, Tanzen und Reiten gewöhnt, sie brauchte nicht mehr an ihren flachen Bauch zu denken, in dem es manchmal so seltsam zog, ein Ziehen, das sie sich selbst nicht erklären konnte, wie von Geigensaiten, die unter ihrer Haut gezupft wurden, und nicht an ihre Brüste, die manchmal schmerzten.
    Sie hob die Hände und legte sie vor ihr Gesicht.
    Sie wollte das Licht nicht mehr sehen.
    Eine Hand legte sich auf Maria Christinas Schulter. »Fürchten Sie sich nicht, Schwester Teresa«, sagte die ruhige Stimme des Arztes, der mit den Soldaten ins Kloster gekommen war. Er war ein kleiner Mann mit einem runden Kopf, der einen dünnen, grauen Haarkranz trug.
    »Es wird gewiß nicht allzu schlimm werden.«
    »Ich fürchte mich nicht«, erwiderte Maria Christina zögernd.
    »Aber Sie weinen jetzt schon, in Ihrem Herzen.«
    Sie senkte den Kopf.
    »Sie leiden, noch ehe das Leiden beginnt.«
    »Bitte, ich – was kann ich tun?« Sie stand schnell auf.
    Seine Hand drückte sie auf den Schemel zurück.
    »Noch nichts«, sagte er. »Wir können nur warten.«
    Der Arzt trug einen weißen Kittel, seine Hand, die noch auf Maria Christinas Schulter lag, roch nach der gelben Seife, die im Kloster gerührt wurde und in viereckigen Stücken in einer eigens dafür vorgesehenen Kammer lagerte.
    Als Maria Christina ein Kind war, hatte ihre Seife nach Rosen geduftet, später dann nach Nelken, und die Milch, die ihre Haut weiß und zart erhielt, nach Mandeln.
    »Das Warten ist immer das Schlimmste in einem Krieg«, sagte der Arzt. Er ging von Maria Christina fort, umkreiste den Tisch mit ruhigen Schritten, die jedoch kein Ziel fanden.
    »Das Warten in den Gräben vor einem Angriff, das Warten auf den ersten Schuß, das Warten auf das Getroffen-, Verwundet-, Getötetwerden. Das Warten ist immer das Schlimmste. Das Warten, ob einer durchkommt, den man operiert hat, das Warten, ob Wundbrand einsetzt oder nicht, und das Warten darauf, sich in das Unabänderliche ergeben zu müssen.«
    »Ich warte seit drei Jahren«, sagte Maria Christina.
    »Draußen warten sie darauf, daß sie verwundet werden, ich warte darauf, die Wunden zu sehen und sie, wenn ich es kann, zu behandeln.«
    Der Arzt zündete sich eine Zigarette an, und Maria Christina sah, daß seine schmalen Finger vom Nikotin gelb gefleckt waren.
    »Die Mutter Oberin –«
    »Ich weiß, ich weiß, sie gestattet es nicht, zu rauchen. Aber ehe das alles vorüber ist, wird sie noch vieles gestatten müssen.«
    »Sind Sie – schon lange im Krieg?«
    »Vom ersten Tag an. Man hat mich requiriert, wie man ein Pferd, einen Wagen, einen Maulesel requirieren würde. Frühmorgens haben sie mich aus meinem Haus geholt, mir meine Bereitschaftstasche in die Hand gedrückt und mich mitgenommen.«
    »Wo war das?«
    »In Almacera. Ich habe meine Frau und meine vier Kinder zurückgelassen, und nur Gott weiß, was aus ihnen geworden ist, seitdem die Republikaner es eingenommen haben.«
    »Und ich weiß nicht, was die Nacionales meiner Familie in Córdoba angetan haben.«
    Der Arzt schaute sie an. »Sie sind noch nicht lange im Kloster?«
    »Im dritten Jahr.«
    »Sie sind doch nicht freiwillig hier!«
    »Doch, oh, doch!«
    Und dann preßte Maria Christina die Lippen fest aufeinander. Es war ihnen nicht gestattet, freimütig mit Fremden, ja, nicht einmal mit den Eltern oder Geschwistern zu sprechen. Die heilige Teresa von Avila hatte es als unnütz und überflüssig empfunden. Und
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