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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes
Autoren: Andreas Winkelmann
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Jahre jünger als sie selbst, doch im direkten Vergleich schnitt sie um mindestens zehn Jahre besser ab. Sie hat nicht gesehen, was du gesehen hast, sagte sich Hanna, doch die vielen Jahre hatten diesen Worten den Trost genommen.
    Sie umarmten sich zur Begrüßung. Dann schob Maria sie ein Stück von sich, sah sie an und sagte: «Du hast nicht gut geschlafen, oder?»
    Hanna zuckte mit den Schultern. «War mal wieder eine jener Nächte.»
    «Setz dich», forderte Maria sie auf. «Ich habe Tee aufgebrüht. Du möchtest doch sicher eine Tasse.»
    «Gern.»
    Auf dem Flur schloss Johann die Haustür ab, löschte das Licht, betrat ebenfalls die Küche, zog auch diese Tür hinter sich zu und setzte sich Hanna gegenüber auf die Bank. Während Maria drei große Tassen auf den Tisch stellte und den dampfenden Tee eingoss, begann Johann in aller Ruhe seine Pfeife zu stopfen. Mit der Routine vieler Jahre gingen seine Finger zu Werke. Hanna bemerkte die dunklen Schatten unter seinen Nägeln. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn je mit sauberen Fingernägeln gesehen zu haben.
    Erst als Maria sich setzte, sah Johann zu ihr auf.
    «Alles klar im Laden?»
    «Wie immer. Was soll sich auch ändern? Solange wir hier keine Bevölkerungsexplosion haben, ändert sich auch mein Umsatz nicht.»
    Johann nickte. Noch immer mit seiner Pfeife beschäftigt, sagte er dann: «Du machst dir auch Sorgen, nicht wahr?»
    «Ja.» Hanna nippte an ihrem Tee und sah über den Rand der Tasse die beiden Möncks an. «Sieht man mir das so deutlich an?»
    «Ich will dich ja nicht beleidigen, aber du siehst mehr tot als lebendig aus. Du schläfst nicht gut, oder?»
    Hanna schwieg einen Moment.
    «Seit die Merbolds eingezogen sind, ist es wieder schlimmer geworden.»
    Johann erwiderte ihren Blick von unten herauf. «Und, was sollen wir tun? Hast du einen Vorschlag?»
    «Einen Vorschlag?» Hanna lachte hölzern. «Woher soll ich den nehmen? Ich kann es immer noch nicht fassen, dass wieder jemand dort wohnt.»
    Maria nickte und schmiegte ihre Hände um die Teetasse. «Wer hätte nach all den Jahren auch gedacht, dass sich je wieder ein Käufer findet, hier draußen?»
    «Wir waren dumm. Wir hätten es besser wissen müssen. Man liest es doch überall. Die Städter zieht es aufs Land.» Johann schloss den Tabaksbeutel und klopfte mit der Pfeife auf den Tisch.
    Hanna trank einen großen Schluck von dem schwarzen Tee mit Zitrone. Wärmend breitete er sich in ihrem Magen aus. Sie ahnte, dass der Tee nicht unbedingt gut für die vor ihr liegende Nacht war, doch im Augenblick war er bestens geeignet, ihre innere Kälte zu vertreiben. Außerdem konnten sich ihre Hände mit der Tasse beschäftigen.
    «Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen. Noch ist nichts, aber auch rein gar nichts geschehen.»
    Johann nickte. «Ganz meine Meinung, aber Maria sieht das anders.»
    «Ja, allerdings, das tue ich. Wir können sie doch unmöglich ins Verderben laufen lassen.»
    «Wenn es überhaupt eines gibt.»
    «Eben das wissen wir nicht genau. Aber selbst auf die leiseste Gefahr hin, dass es wieder geschehen könnte, müssen wir etwas unternehmen.»
    Sie schwiegen, sahen sich nicht einmal an.
    Maria schüttelte den Kopf. «Wir können doch gar nicht anders! Oder wollt ihr später damit leben müssen, nichts unternommen zu haben?»
    Johann hatte seine Pfeife noch immer nicht angezündet. Er spielte damit, drehte sie hin und her, betrachtete sie und strich mit dem Daumen über das glatte Kirschbaumholz.
    «Keiner von uns will, dass den dreien etwas geschieht, und das weißt du auch. Aber wir müssen genau überlegen, was wir tun.» Seine Stimme klang versöhnlich und beruhigend, so als spreche er zu einem kleinen, trotzigen Kind.
    «Das streite ich auch nicht ab, aber ich weiß nicht, ob wir so viel Zeit haben. Bei Gott, ich hoffe wirklich, wir haben so viel Zeit!»
    «Wir müssen es ihnen nach und nach beibringen, in kleinen Schritten, eins nach dem anderen», sagte Johann. Er legte seine Hand auf den Unterarm seiner Frau. «Und vor allem muss einer rübergehen. Jemand muss nach dem Rechten sehen.»
    «Ich mach das», sagte Hanna.
    «Und was willst du sagen?»
    «Nun … ich nehme eine Blume mit und heiße sie willkommen. Wird sowieso mal Zeit.»
    Maria schüttelte den Kopf. «Das meine ich nicht. Was willst du ihnen
darüber
sagen?»
    Hanna zögerte und dachte einen kurzen Moment über die Frage nach.
    «Ich erzähle ihnen von damals, nur von damals. Für sie wird es wie ein
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