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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes
Autoren: Andreas Winkelmann
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voller Blut!
    Mit dem roten Schal darum sah es so aus, als sei er voller Blut. Hanna Wittmershaus beugte sich vor und blickte in den großen Ankleidespiegel im unteren Flur. Einmal mehr sah sie, was die Schlaflosigkeit aus ihrem Gesicht gemacht hatte. Tief lagen ihre Augen in den Höhlen, und das schlechte Licht der matten Glühbirne verstärkte die blauen Schatten darunter noch. Ebenfalls tief eingegraben zogen sich Runzeln von der Nase und den Augen über die Wangen zum Hals. Mit den Fingerspitzen fuhr sie über die beiden Falten rechts und links der Mundwinkel. Diese Falten hasste sie am allermeisten; sie verliehen ihr einen bitteren Zug und hatten nichts mit ihrem Alter zu tun. Hanna wusste nur allzu gut, wie sie entstanden waren.
    Seit damals, als sie Gerd neben der Kloschüssel gefunden hatte, erstickt an seinem eigenen Erbrochenen, hatten sie sich Jahr für Jahr tiefer eingegraben. Gegen diese Art Falten halfen keine Cremes, dagegen gab es keine Wundermittel – außer vielleicht ausreichend Schlaf, doch den bekam sie nicht. Sie wandte sich von ihrem Spiegelbild ab und wickelte sich den Schal vollends um.
    All die Jahre, die vergangen waren, und nun mussten sie sich wieder mit dem Haus beschäftigen. Seit die Merbolds es gekauft und mit der Renovierung begonnen hatten, schien der Vorhang, der sich mit der Zeit langsam, viel zu langsam, aber glücklicherweise dann doch vor ihre Erinnerungen geschoben hatte, fortgerissen zu sein. Die Schlaflosigkeit hatte sich verschärft, und in den langen Nächten tauchten Bilder in ihrem Kopf auf, die sie längst vergessen geglaubt hatte. Letzte Nacht war besonders schlimm gewesen. Im schummrigen Licht der Notbeleuchtung hatte sie Ware ins Regal sortiert (die Deckenbeleuchtung hatte sie nicht einschalten wollen, denn dann hätte jeder auf der Straße sie sehen können), und jetzt, um Viertel vor acht am Abend, war sie völlig übermüdet, spürte aber, dass sie trotzdem nicht würde einschlafen können. Zum einen lag das an der Verabredung mit Johann und Maria, zum anderen aber auch an der Kanne Kaffee, die sie am Nachmittag getrunken hatte. Jetzt bereute sie es. Das Koffein war nicht gut für sie, es schadete ihren Knochen und Gelenken. Doch ohne hätte sie den Tag nicht überstanden.
    Hanna warf sich ihren Mantel über und nahm den Schlüsselbund vom Haken. Sie hatte die Haustür schon geöffnet, da erinnerte sie sich an den Tabak, um den Johann am Telefon gebeten hatte. Sie ging in den Laden, nahm zwei Packungen Pfeifentabak aus dem Ständer an der Kasse und verließ das Haus durch den Hintereingang.
    Johann hatte am Telefon kein Wort darüber verloren, warum sie sich treffen sollten. Aber das war auch nicht nötig. Seit zwei Monaten befand sich das Haus im Besitz der Merbolds. Bislang hatten sie den Kopf in den Sand gesteckt, hatten so getan, als wäre alles in bester Ordnung. War das dumm? Vielleicht sogar feige? Andererseits, warum sollten sie sich um anderer Leute Dinge kümmern?
    Weil wir als Einzige die Wahrheit kennen! Weil diese junge Familie vielleicht ins Unglück rennt!
    Ja, vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Wer konnte das schon sagen?
    Hanna stieg in ihren alten Opel Astra und fuhr los. Kaum drei Minuten brauchte sie für den Weg zur Baumschule der Möncks. Johann erwartete sie in der offenen Haustür. Seine große Gestalt füllte das helle Rechteck aus.
    «Komm rein, Hanna», rief er. «Ziemlich kalt heute, was?»
    Sie drückte sich an ihm vorbei in den Hausflur. Wie immer verströmte er den süßlich-herben Geruch seines Pfeifentabaks.
    «Das kannst du laut sagen. Vielleicht bekommen wir dieses Jahr mal wieder Schnee?»
    Johann half ihr aus dem Mantel. «Ich würd nicht unbedingt meinen Besitz drauf verwetten, aber mein Gefühl sagt mir, dieses Jahr kriegen wir sogar ’ne weiße Weihnacht.»
    «Hat dich dein Gefühl letztes Jahr nicht auch schon getäuscht? In der Manteltasche ist übrigens dein Tabak.» Während Johann den Mantel an die Garderobe hängte und seinen Tabak aus der Tasche nahm, ging Hanna in die Küche.
    Marias Küche war der zentrale Ort in dem großen Haus. Dort kam die Familie zusammen – und immer wenn Hanna sie betrat, fühlte sie sich zugehörig. Der Raum war groß und hatte ein breites Fenster auf die Einfahrt und einen Teil der Pflanzungen. Maria Mönck saß am Kopfende des langen Tisches. Im hellen Licht der tief hängenden Lampe wirkte ihr Gesicht unverschämt jung. Tatsächlich war Maria dreiundfünfzig, und damit nur zwei
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