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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes
Autoren: Andreas Winkelmann
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es von Anfang an – bis auf den Keller –, und je mehr sie an ihm herumwerkelten, umso tiefere Zuneigung, vielleicht sogar Liebe empfand sie für ihr Haus. Es entwickelte ein Gesicht, Charakter, und es gab ihr eine Menge Zuversicht für die Zukunft ihrer kleinen Familie.
    Die Fragen aber blieben offen. Kristin hätte gern etwas über die Geschichte des Hauses erfahren. Ein so altes Haus musste einfach eine Geschichte haben. Doch es gab niemanden, den sie hätte fragen können. Da sie während der Renovierungsphase noch in Hamburg lebten und nur für die Arbeiten herauskamen, war noch kein Kontakt zu den Nachbarn zustande gekommen. Wenn sie in dem kleinen Edeka-Laden in der Dorfmitte einkaufen ging, verhielten die Einheimischen sich so, wie Städter es von Landmenschen erwarteten: zurückhaltend, wortkarg, reserviert. Also behielt das Haus seine Geschichte und seine Geheimnisse zunächst für sich. Bis zum Nachmittag des 16 . August, an dem Kristin den Anbau entrümpelte. Was sie dort fand, erregte ihr Interesse, doch kurz darauf kam der Tod und veränderte alles.

    Kristin war mit der Absicht in den Schuppen gekommen, ihn so weit aufzuräumen, dass sie wenigstens ihre Fahrräder und Lisas Kinderwagen hier unterstellen konnten. Offensichtlich hatte der Schuppen den früheren Bewohnern des Hauses als Lagerplatz für Brennholz gedient. Er war furztrocken, wie Tom es genannt hatte, und damit seiner Meinung nach zu gefährlich als Lagerplatz für brennbare Materialien. Man musste dem Feuer ja nicht noch zusätzliche Nahrung verschaffen. Später würden sie auch einen Kamin haben, doch Tom wollte das Brennholz auf einer freien Fläche hinter dem Haus stapeln, wo der Wind es trocknen würde. Also konnte dieser Teil des Schuppens, der zwischen Garage und Werkstatt lag, als Fahrradraum dienen. Wenn er aufgeräumt war!
    Kristin betrachtete den Holzberg mit in die Hüften gestemmten Fäusten. Durch das von Spinnenweben überzogene kleine Fenster drang nur milchiges Licht herein, in dem der von ihr aufgewirbelte Staub einen kosmischen Tanz aufführte. Alles Mögliche konnte unter diesem undurchdringlichen Haufen leben: Ratten, Mäuse, Spinnen, Kleinstlebewesen, von denen sie noch nie etwas gehört hatte und die es in der Stadt auch nicht gab. Aber wofür hatte sie Arbeitshandschuhe? Als sie den ersten anziehen wollte, fiel er zu Boden. Kristin bückte sich, hob ihn auf und streifte ihn in hockender Stellung über. Bevor sie sich wieder aufrichtete, fiel ihr etwas auf. Der Haufen füllte bis auf einen schmalen Streifen bei der Tür den gesamten Raum aus. Und irgendwo in dieser Tiefe sah sie ein Rad. Ein hölzernes Rad. Durch einen schmalen Tunnel in dem Gewirr aus Brettern, Kanthölzern, Pfählen und Teilen von alten Möbeln konnte sie es erkennen. Jedenfalls einen kleinen Ausschnitt davon.
    Im Haus hatten sie rein gar nichts Altes gefunden. Darüber war Kristin enttäuscht. Sie hatte sich darauf gefreut, zwischen altem Gerümpel auf Entdeckungsreise zu gehen und dabei vielleicht ein klein wenig in die Vergangenheit anderer Leute zu tauchen. Deshalb hatte sie auch bereitwillig die Entrümpelung des Stalles übernommen.
    Und wenn hinter dem Brennholzhaufen etwas mit Rädern stand, wenn dort etwas versteckt war? … Wer konnte schon sagen, was sie alles finden würde?
    Kristin streifte auch den anderen Handschuh über und machte sich an die Arbeit. Ein Stück nach dem anderen schaffte sie nach draußen, wo sie es auf einen Haufen warf, der später aufgebrannt werden sollte. Nach einer halben Stunde war sie ihrem Ziel noch nicht viel näher gekommen. Der Raum schien tiefer zu sein, als es den Anschein hatte, und was immer mit Rädern in dem Haufen verborgen war, stand ganz weit hinten. Sie brauchte Hilfe. Toms Hilfe. Aber der war in der Küche damit beschäftigt, Fliesen zu verlegen. Er hatte bestimmt keine Lust, seine Arbeit für die Neugierde seiner Frau zu unterbrechen. Wenn er sich in eine bestimmte Sachen vertiefte, war er kaum davon loszubekommen.
    Kristin seufzte, pustete sich die widerspenstige Haarsträhne zum wiederholten Male aus dem Gesicht und machte weiter. Eine halbe Stunde später hatte sie zwar genug Platz für die Fahrräder und den Kinderwagen geschaffen, das Ding mit den Rädern aber noch immer nicht freigelegt. Sie war erschöpft und hatte keine Lust mehr. Sie nahm sich vor, am nächsten Wochenende weiterzumachen. Dass das Schicksal andere Pläne bereithielt, konnte sie freilich nicht wissen.

3
    Ihr Hals war
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