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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes
Autoren: Andreas Winkelmann
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dem Tod
    1
    «Ich bin wieder hier,
    in meinem Revier,
    war nie wirklich weg,
    hab mich nur versteckt.»
    Kristin Merbold stand mit fleckiger, blau karierter Schürze am Herd und summte den Refrain des Liedes mit. Warmes Oktoberlicht flutete durch das alte, trüb gewordene Fensterglas in die Küche und ließ die aufsteigenden Dampfschwaden bläulich erscheinen. Die raue Stimme des Sängers trieb ihr einen Schauer über den Rücken. In Gedanken kehrte sie in die Vergangenheit zurück: zu jener warmen Juninacht, als sie an Tom gelehnt dieses Lied in der dunklen, nur von Feuerzeugen erhellten Arena eines Fußballstadions gehört hatte.
    Plötzlich unterbrach der Radiosprecher das Lied für eine Verkehrsmeldung. Ihr Wachtraum zerplatzte. Kristin machte sich daran, das Omelett zu wenden. Die Unterseite hatte genau die richtige, goldbraune Farbe, und nun kam der entscheidende Moment, den sie noch immer fürchtete. Tom konnte von ihren spanischen Omeletts nicht genug bekommen; kaum eine Woche verging, in der er nicht quasi darum bettelte. Wie viele dieser Dinger sie schon gebraten hatte, wusste Kristin nicht, aber noch immer war das Wenden ein kritischer Moment, der oft genug im Spülbecken endete. Diesmal jedoch tat das Acht-Eier-Omelett, was von ihm erwartet wurde. Nach einem geschickten Wurf landete es in einem Stück in der Pfanne.
    Als sie einen Wagen auf dem Schotter ihrer Zufahrt hinabrollen hörte, verharrte Kristin. Noch immer missfiel ihr dieses Mahlen und Knirschen der Steine unter den Autoreifen. Es klang, als würde sich etwas von tief unter der Erde nach oben wühlen. Schnell stellte sie die Pfanne auf dem heißen Ceranfeld ab und reinigte ihre Hände an der Schürze. Tom brachte Lisa vom Kindergarten mit, und um keinen Preis wollte Kristin den Anblick verpassen, wenn die beiden aus dem Wagen stiegen. Der Umzug, die langen Fahrten in die Stadt, die vielen Überstunden des Geldes wegen – all das hatte dazu geführt, dass Lisa wenig von ihrem Vater hatte und solche Momente selten waren. Doch noch bevor sie zum Fenster ging, runzelte Kristin die Stirn.
    Da stimmte was nicht.
    Im vergangenen Jahr hatten sie bei einer Nikolauslotterie den Jeep Cherokee gewonnen. Einen Fünfunddreißigtausend-Euro-Wagen, mit einem Los, das nicht einmal fünf Euro gekostet hatte. In dem kleinen Lottogeschäft unten an der Durchgangsstraße, in dem Kristin jede Woche die Fernsehzeitung gekauft hatte, hatte Lisa nervtötend lange in der Lostrommel herumgewühlt und sich schließlich für das eine besondere Los entschieden. Seitdem war es ihr «Jeepi».
    Kristin hatte ein gutes Gehör dafür entwickelt, ob es ihr Jeepi war, der die Zufahrt hinunterkam, oder nicht. Sie mochte dessen zuverlässiges, satt brummendes Geräusch. Der Motor da draußen klang anders. Fremd.
    Mit zwei Schritten war sie am Fenster. Ein dunkelgrüner Ford Kombi hielt auf ihrem Hof. Der Staub des blaugrauen Schotters waberte an den Reifen empor. Sonnenlicht reflektierte in der getönten Windschutzscheibe, sodass sie nicht erkennen konnte, wer am Steuer saß.
    Der Motor erstarb. Die Tür der Fahrerseite wurde geöffnet, und ein rundlicher Mann quälte sich aus dem Sitz empor. Ihm folgte auf der anderen Seite eine große, hagere Frau. Beide trugen dunkle, offiziell wirkende Kleidung, die für einen solch sonnigen Spätsommertag entschieden zu warm war. Sie verharrten in den geöffneten Türen und blickten zum Haus.
    Bevor sie Kristin am Küchenfenster entdecken konnten, trat sie rasch einen Schritt zurück. Ihr Herz schlug dumpf. Obwohl ihr Kopf plötzlich leer war und sie kaum noch denken konnte, stellte sie die Herdplatte ab. Dann legte sie die Schürze beiseite und ging auf die Diele. Dort war es dunkel und kühl; es gab kein Fenster, durch das sie gesehen werden konnte. Draußen wurden die Türen des fremden Wagens zugeschlagen – zwei dumpfe Geräusche –, dann scharrten Schritte auf dem Rotsteinpflaster des kurzen Weges, der vom Hof zum Haus führte.
    Vielleicht gehen sie ja wieder, wenn ich mich nicht zeige, dachte Kristin. Vielleicht haben sie sich nur in der Adresse geirrt und machen auf dem Absatz kehrt, sobald sie unseren Namen auf der Klingel gelesen haben.
    Ihre Hoffnungen wurden nicht erfüllt – es schellte. In der angespannten Stille des Hauses kam ihr der melodische Gong unerträglich laut vor. Sie zog den Pferdeschwanz straff, mit dem sie ihr langes Haar wie jeden Tag gebändigt hatte, strich ihre Bluse glatt und öffnete die Tür. Im Gegenlicht
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