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Der Gesang des Blutes

Der Gesang des Blutes

Titel: Der Gesang des Blutes
Autoren: Andreas Winkelmann
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Schmuckstück, stach ihm schmerzhaft in den Rücken. Der Sturz war schnell vorbei. Neben Johann kam er am Fuß der Treppe zu liegen. Ihm war für einen kurzen Moment schwarz vor Augen, er wusste nicht, wo oben und unten war, blieb aber bei Bewusstsein. Den Ordner, die Flaschen Brennspiritus und seine Waffe hatte er verloren.
    Seine Waffe!
    Robert richtete sich halb auf, schüttelte benommen den Kopf und sah im nächsten Moment den riesigen schwarzen Schatten in der geöffneten Eingangstür.
    «Und führ sie vor, an deinem Blut», hallte eine Stimme durch die Diele.

33
    Toms Ehering.
    Sie hatte Toms Ehering vergessen.
    Die Dinge, die sie Robert zur Rettung aufgetragen hatte, waren wichtig, doch keines davon auch nur annähernd so wie Toms Ehering. Ilse hatte unrecht gehabt; es war weder töricht noch naiv und schon gar nicht selbstzerstörerisch, den Ring zusammen mit ihrem zu tragen, das wusste Kristin jetzt. Es war ein Zeichen ihrer tiefen Verbundenheit. Sie hätte ihn niemals abnehmen dürfen. Sie wollte ihn wiederhaben.
    Zusammen mit den anderen stieg sie aus, ließ aber den Zündschlüssel stecken. Sie wusste jetzt, was sie zu tun hatte, und niemand würde sie davon abbringen. Und sie wusste auch, dass sie es Lisa nicht verständlich machen könnte. Die Kleine würde sie nicht gehen lassen, würde heulen, schreien und sich an ihren Hals klammern. Deshalb entschloss sich Kristin, es ihr nicht zu sagen.
    Schweigend stapften sie durch den immer noch dichten Schneefall über den Parkplatz zur Hinterseite des Hauses. Maria hatte von Johann den Schlüssel bekommen. Sie öffnete die Tür und ließ alle eintreten. Kristin blieb bei ihr stehen, beugte sich zu ihr und flüsterte:
    «Ich habe etwas Wichtiges im Haus vergessen. Bitte pass auf Lisa auf, ich bin bald wieder da.»
    Ohne Marias Reaktion abzuwarten wandte Kristin sich um und ging davon. An der Ecke des Hauses blieb sie stehen und blickte zurück. Maria stand noch in der Tür; sie sah verängstigt und klein aus, aber sie nickte ihr zu. Es ist in Ordnung, viel Glück, so verstand Kristin das Nicken. Sie lächelte flüchtig, dann lief sie zum Cherokee und fuhr los. Hoffentlich, dachte sie dabei, haben sie es noch nicht angezündet.
    Sie fuhr schnell. Der Cherokee tanzte auf der tiefverschneiten Straße hin und her. Nur dank der grobstolligen Reifen und des Vierradantriebs landete sie nicht schon nach wenigen Metern im Graben. Kristin wusste, dass sie langsamer fahren müsste, konnte den Fuß aber nicht vom Gas nehmen. Sie durfte nicht zu spät kommen. Der Wind rüttelte heftig am Wagen, als sie an eine freie Fläche kam. Dicht stoben ihr die Schneeflocken entgegen. Was dann geschah, begriff sie erst im Nachhinein, und sie sollte sich später noch oft fragen, ob es Zufall gewesen war. Ob es solche Zufälle überhaupt gab?
    Benjamin Blümchens Geschichte war zu Ende gewesen, als sie vor dem Edeka geparkt hatte, nicht jedoch die Kassette. Diese Dinger hatten die Eigentümlichkeit, dass am Schluss noch ein paar Zentimeter Band folgten, auf denen nichts außer Rauschen war. Jetzt sprang die Kassette heraus, und automatisch setzte das Radio ein. Die Lautstärke war noch hochgedreht, die plötzlich einsetzende Musik hämmerte auf Kristin ein.
    Sie verriss das Lenkrad, der Wagen scherte nach rechts aus, sie kurbelte in die andere Richtung, der Wagen kehrte in die Spur zurück, schoss aber nach links, wedelte mit dem Heck, rutschte, drehte sich um die eigene Achse und schlitterte weiter wie ein Kreisel auf einer blankpolierten Eichenholzplatte. Kristin klammerte sich ans Lenkrad und schrie. Schrie so lange, bis der schwere Wagen mitten auf der Landstraße, mit der Schnauze Richtung Althausen, zum Stehen kam. Erst da brach ihr Schrei ab – und sie hörte den Song im Radio:
    «… in meinen Träumen … Ich bin wieder hier, in meinem Revier, war nie wirklich weg, hab mich nur versteckt.»
    Den Rest des Textes nahm sie nicht mehr wahr, nur noch die ihr so gut bekannte Melodie. Von irgendwo weit außerhalb drang mit diesen Worten etwas in ihren Kopf ein. Es kam von überall und nirgends, war zu Haus im Äther, im Universum, in einer Welt neben dieser, in ihrem Kopf. Vielleicht war es immer schon in ihrem Kopf gewesen, verschüttet, aber vorhanden.
    «Bringt heraus Messer und Scher, so sie schneiden wieder schwer. Ich schleif sie euch, schnell und gut, und führ sie vor an meinem Blut.»
    Der Gesang des Scherenschleifers mischte sich unter den Song im Radio, durchdrang ihn,
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