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Engelsstimme

Engelsstimme

Titel: Engelsstimme
Autoren: Arnaldur Indridason
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Eins
    Elínborg wartete im Hotel auf sie.
    Ein großer Weihnachtsbaum stand im Foyer, und die Halle war mit Tannenzweigen und glitzernden Kugeln weihnachtlich geschmückt. Holder Knabe im lockigen Haar erklang aus einer unsichtbaren Lautsprecheranlage. Große Reisebusse standen vor dem Eingang, und die Menschen strömten in die Rezeption. Ausländer, die Weihnachten und Neujahr in Island verbringen wollten, weil in ihren Augen Island Abenteuer und Spannung versprach. Sie waren gerade erst gelandet, aber trotzdem hatten sich einige bereits die typischen Islandpullover gekauft. Man trug sich eifrig als Gast in diesem fremden Winterland ein. Erlendur klopfte sich den nassen Schnee vom Mantel. Sigurður Óli ließ die Blicke über das Foyer schweifen und entdeckte Elínborg bei den Aufzügen. Er stieß Erlendur an, und sie gingen zu ihr hinüber. Sie hatte den Schauplatz bereits in Augenschein genommen. Die Polizisten, die zuerst eingetroffen waren, hatten dafür gesorgt, dass nichts angerührt wurde.
    Der Hotelmanager bat händeringend darum, nicht überzureagieren. Das Wort hatte er verwendet, als er anrief. Dies war ein Hotel, und Hotels lebten von ihrer Reputation, und er bat sie, Rücksicht darauf zu nehmen. Deswegen gab es draußen keine Sirenen, und es gab auch keine uniformierten Polizisten, die durch die Halle stürmten und Leute anrempelten. Der Hotelmanager erklärte, dass die Gäste des Hotels unter gar keinen Umständen in irgendeiner Weise beunruhigt werden dürften.
    Island durfte nicht zu spannend und abenteuerlich sein.
    Jetzt stand der Hotelmanager an der Seite von Elínborg und gab Erlendur und Sigurður Óli die Hand. Der Mann war so fett, dass er kaum in seinen Anzug passte. Das Jackett war über dem Bauch mit einem Knopf zugeknöpft, der sicher nicht mehr lange halten würde. Der Hosenbund verschwand unter dem enormen Bauch, der aus dem Jackett quoll, und der Mann schwitzte so stark, dass er das große, weiße Taschentuch, mit dem er sich in regelmäßigen Abständen Stirn und Nacken abwischte, kaum wegstecken konnte. Der weiße Hemdkragen war schon schweißnass. Erlendur drückte seine feuchte Hand.
    »Vielen Dank«, erklärte der Hotelmanager und blies vor lauter Besorgnis wie ein Wal. Er hatte das Hotel fast zwanzig Jahre lang geleitet, aber so etwas war ihm noch nie untergekommen.
    »Und das mitten im Weihnachtsbetrieb«, stöhnte er. »Ich begreife nicht, wie so etwas passieren kann. Wie kann so etwas passieren?«, wiederholte er, und ihnen entging nicht, dass ihn die Situation völlig überforderte.
    »Ist er unten oder oben?«, fragte Erlendur.
    »Unten oder oben?«, schnaufte der fette Hotelmanager. »Meinst du etwa, ob er zum Himmel gefahren ist?«
    »Tja«, sagte Erlendur. »Das müssen wir wohl unbedingt in Erfahrung bringen.«
    »Nehmen wir den Aufzug nach oben?«, fragte Sigurður Óli.
    »Nein«, erwiderte der Hotelmanager, der sich auf den Arm genommen fühlte und Erlendur anstarrte. »Er ist hier unten im Keller. Hat da ein kleines Zimmer. Wir haben ihn nicht rauswerfen mögen. Und das ist dann der Dank dafür.«
    »Warum wolltet ihr ihn denn rauswerfen?«, fragte Elínborg.
    Der Hotelmanager sah sie an, ohne zu antworten.
    Sie begaben sich langsam auf der Treppe neben dem Aufzug nach unten. Der Hotelmanager ging voran. Sogar treppabwärts waren die Stufen eine Anstrengung für ihn, und Erlendur überlegte, wie er da wohl wieder hochkommen würde.
    Sie hatten sich damit einverstanden erklärt, möglichst rücksichtsvoll vorzugehen, nur Erlendur hatte nichts gesagt. Sie wollten wenigstens versuchen, so diskret wie möglich zu arbeiten. Drei Polizeiautos und ein Krankenwagen standen hinter dem Hotel. Polizei und Krankenwagenbesatzung waren zum Hintereingang hereingekommen. Der Amtsarzt war unterwegs. Er würde den Totenschein ausstellen und den Leichenwagen anfordern.
    Sie gingen einen langen Gang entlang, Schritt für Schritt hinter dem schnaufenden Wal her. Uniformierte Polizisten grüßten sie. Je weiter sie nach hinten kamen, desto dunkler wurde der Gang, weil die Birnen an der Decke den Geist aufgegeben hatten und sich offenbar niemand die Mühe gemacht hatte, sie auszuwechseln. Schließlich kamen sie in der Finsternis an eine Tür, die halb offen stand und den Blick in einen kleinen Raum freigab. Der glich eher einer Abstellkammer als einer menschlichen Behausung, aber enthielt immerhin ein schmales Bett und einen kleinen Schreibtisch. Auf den dreckigen Fliesen lag ein
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