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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Mechtild Borrmann
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Meschenow fragen: Wo spielen sie? In Paris? In London? In Amsterdam?

Kapitel 6
    E dita bewohnte zwei kleine Zimmer mit Gemeinschaftstoilette auf dem Flur und Blick in einen Hinterhof. Der vordere Raum war eine Art Wohnküche. Ein Gasherd, ein schmales Regal und ein Wasserhahn, unter dem eine Emailleschüssel stand, ergaben eine Küchenzeile. Ein Abflussrohr gab es nicht, man trug die Schüssel zum Ausleeren über den Flur zum Klo. Hinter dem Küchentisch stand ein schmales Sofa in abgewetztem Blau, auf dem Galina versucht hatte, ein wenig zu schlafen. Es war ihr nicht gelungen.
    Um sechs Uhr in der Frühe klingelte auf dem Flur das Gemeinschaftstelefon. Die schlurfenden Schritte und das Husten eines Mannes waren zu hören. Ein kurzer, undeutlicher Wortwechsel, wieder Schritte, und dann schlug jemand gegen die Wohnungstür.
    »Telefon für euch«, krächzte die Männerstimme. Im Nebenzimmer begann Ossip zu weinen. Galina stand hastig auf, hörte Editas beruhigende Stimme, während sie auf den Flur lief. Vor der Toilette warteten eine Frau und ein Kind, auch der hustende Mann stellte sich an.
    Die Verbindung war schlecht.
    »Keine Verhaftung«, sagte Meschenow am anderen Ende der Leitung. »Im Ministerium weiß man nichts von einer Verhaftung.«
    »Aber das kann doch nicht sein.« Sie musste laut in die Sprechmuschel rufen. Die Worte hallten von den nackten Wänden wider. »Sie haben ihn mitgenommen. Sie haben unsere Wohnung durchsucht. Wie können die das behaupten?«
    Die Wartenden sahen neugierig zu ihr herüber und drehten sich eilig weg, als Galina ihren Blicken begegnete.
    Meschenows Stimme kam von weit her. »Galina, beruhigen Sie sich. Ich kenne jemanden im Ministerium, der sich darum kümmern wird. Das Ganze scheint ein Missverständnis zu sein.«
    Als sie in die Wohnung zurückkam, stand Edita mit Ossip auf dem Arm am Herd und machte in einem kleinen verbeulten Topf Milch warm. Galina trug immer noch das elegante Samtkleid vom Konzertabend. Sie schlüpfte in ihre Pumps, lieh sich von Edita eine Jacke und ließ die Kinder bei der Freundin.
    »Ich muss Ordnung schaffen«, sagte sie, »ich hol die Kinder ab, wenn aufgeräumt ist.«
    In ihr breitete sich der mächtige Gesang der Hoffnung aus. »Das Ganze ist ein Missverständnis. Er ist schon zu Hause. Er wartet auf uns«, frohlockte es in ihr, aber sie sprach es nicht aus.
    Sie fuhr mit der Metro, sah sich suchend auf dem Bahnsteig und dann im Abteil um, verstand nur langsam, wonach sie Ausschau hielt. Nach einem hochgewachsenen Mann. Nach einem schmalen Gesicht, dunklen Haaren, die sich bei feuchtem Wetter wellten. Nach blauen Augen, in denen immer ein gewisses Staunen lag. Ein Mann in Frack und Fliege, der um diese Uhrzeit auffallen musste. Sie lächelte. Ilja fuhr nicht gerne mit der Metro. Das Lärmen der Züge, in denen man sein eigenes Wort nicht verstand, war ihm eine Qual. Er war sicher gelaufen, hatte erleichtert die frische Morgenluft aufgesogen.
    Kaum dass sie die Haustür aufgeschlossen hatte, blieb sie erschrocken stehen. Dann ignorierte sie das Durcheinander und rief seinen Namen. Sie lief von einem Zimmer ins nächste, stieg über Scherben, Bücher, Notenblätter, Töpfe, Bauklötze und Kleidungsstücke. Ihre Stimme überschlug sich. Das a in seinem Namen zog sich von Ruf zu Ruf länger, wurde zum Schmerzensschrei und brach sich schließlich in einem Schluchzen. Im Schlafzimmer setzte sie sich auf den Boden. An das durchwühlte Bett gelehnt, weinte sie hemmungslos. Es war wie ein Sturz aus großer Höhe.
    Sie wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte. Als sie die Hände vom Gesicht nahm und sich umsah, war ihr erster zusammenhängender Gedanke: »Alles zerstört«, und dieses »alles« hallte in ihr nach und ging weit über den Anblick der Wohnung hinaus.
    Gedankenlos ging sie ins Wohnzimmer, hob eine Porzellanvase und eine Tonschale auf, die heil geblieben waren, und stellte sie auf den Flügel. Dann begann sie aufzuräumen. Ordnung schaffen. Äußerlich und innerlich. Sie stellte das umgestoßene Regal auf, sortierte Bücher ein, faltete Tischwäsche, legte sie in den Schrank zurück und kehrte zusammen, was der Durchsuchung nicht standgehalten hatte. Die Scherben der Kristallgläser – Erbstücke von ihren Eltern – schlugen gegeneinander, als sie sie mit dem Handfeger auf das Kehrblech schob. Sie hinterließen diesen hellen unnachahmlichen Ton, dem Ilja beim Zuprosten so gerne gelauscht hatte. Ihr wurde schwindelig. Sie stützte sich
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