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Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)

Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)

Titel: Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)
Autoren: Michael Innes
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Straßenecke stand eine Gruppe amerikanischer Touristen vor dem Thackeray-Hotel – und Leute starrten sie im Vorbeigehen an, studierten sie wie Ornithologen eine rare Spezies. Es war ja nur natürlich, daß Restaurants versuchten, ihren Umsatz mit einem Obststand aufzubessern, oder daß eine Teestube für Damen unter Damen den Besitzer wechselte. Panta rhei – alles trottet voran. Aber war es nicht jederzeit denkbar, daß die Dinge schneller zu fließen begannen, so wie der Verkehr in der Great Russell Street, der dem alten Hetherton eines Tages noch zum Verhängnis werden würde? Appleby faßte seinen Freund am Arm und steuerte ihn hinüber zu dem großen Museumsportal.
    Das Sonnenlicht war gedämpft, ein paar unauffällige Leute – akademisch, absonderlich, langweilig – saßen noch in später Mittagspause auf den Treppenstufen und aßen ihre Butterbrote, über ihnen zogen Tauben ihre Runden, von Plätzen in den Kolonnaden aus. Und Hetherton blieb zwischen den mächtigen Säulen stehen wie an einem vorstädtischen Gartentor und fragte melancholisch: »Wollen Sie nicht mit hineinkommen?«
    Appleby kam mit hinein. Ein graues Licht, kalt und rein; alle Laute gedämpft und doch mit einem leisen Hall; Besucher, die ein wenig benommen durch die Gänge zogen – benommen wohl von dem obskuren Gefühl, daß es hier in diesen Hallen war und nicht an einem romantischen Ort der Phantasie, wo alle kleinlichen Sorgen des Alltags von ihnen abfielen. Dieser Ort stand außerhalb der Zeit, er ruhte, schien es, fest auf dem Fundament der Ewigkeit. Vor ihnen, an unbedeutenden Türen und einer bescheidenen Garderobe vorbei, lag der große kuppelgekrönte Lesesaal, Mittelpunkt aller englischen Gelehrsamkeit. Um sie herum auf mehreren Etagen die Zeugen von Jahrtausenden: Brahma und Minerva, Kwannon und Mama Dyanbo, Bes und Set und die anderen grimmigen Götter vom Nil blickten hinunter auf die müßigen Londoner im Jahre des Herrn 1939. All die Bronze, der Granit und der Quarz, schwarzer Basalt und grüner Schiefer schienen wie Schilde gegen den Tod, die Stützpfeiler einer Beständigkeit, die selbst unsichtbar blieb. Man mußte den alten Hetherton nur vor den Nasen der Busse und Taxis retten, ihn sicher in diesen mächtigen Mutterleib bringen, und er war geborgen, bis ihn das nächste Mal das Bedürfnis überkam hinauszugehen. Nichts konnte ihm hier geschehen … Appleby blinzelte mit den Augen. Es war eine Täuschung – ein Streich, den der Geist solcher Orte dem Bewußtsein spielte. Aber ein von Milch und gebackenen Bohnen gestärkter Verstand konnte Widerstand leisten. Denn wenn der erste Schuß auf dem Balkan fiel oder eine Bombe in Warschau explodierte, dann wäre diese so unerschütterlich scheinende Zuflucht über Nacht verwaist, dann würden die Vasen zwischen Holzwolle verschwinden und die großen Götterbilder unter viel Ächzen und Stöhnen in geheime Notquartiere gebracht. Es schien, als könne nichts dem roten Tempellöwen von Soleb etwas anhaben, ja genau diesen Eindruck machte er seit über dreitausend Jahren. Doch viele, die nicht anders waren als er, waren im Wüstenwind zerstoben.
    »Wer würde einen derart harmlosen Menschen erschießen?«
    Appleby blinzelte noch einmal. Hetherton war an der Tür zu seinem Büro stehengeblieben; offensichtlich ließ die Frage ihn nicht mehr los.
    »Wer Ploss erschießen würde? Das weiß der Himmel. Aber manchmal erwischt eine Kugel auch einen harmlosen Mann. Und dann müssen wir herausfinden, ob es nicht einen Punkt gab, in dem er gar nicht so harmlos war. Ein stiller Skandal – eine Frau, eine Abhängigkeit, eine dunkle Vergangenheit. Aber nichts in dieser Art paßt bei Ploss.«
    Sie traten in Hethertons Zimmer, und er räumte einen Stuhl von Papieren und Fotografien frei. Doch Appleby ging rastlos auf und ab, bis er vor einer Statuette im Regal stehenblieb. Es war eine Faiencefigur aus Knossos, ein kopfloser, üppiger Frauenkörper, und in der Hand hielt sie etwas, das aussah wie eine Schlange. »Sex«, sagte Appleby. »Damit fangen wir an. Plossens Liebesleben war trivial und wohlgeordnet. Das war für ihn die angemessene Form, alles andere hätte er mit Argwohn betrachtet. Und jede, die – nun – sich auf ihn einließ, muß diese Einstellung geteilt haben. Nicht das Milieu für ein Eifersuchtsdrama.«
    »Nein, wohl kaum.« Hetherton sagte es ein wenig unsicher und ließ den Blick von der Knossos-Figurine zu einer schon ein wenig ausgebleichten Photogravüre der Hera von
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