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Der Garten der verlorenen Seelen - Roman

Der Garten der verlorenen Seelen - Roman

Titel: Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
Autoren: C.H.Beck
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Gewicht, und noch immer fühlt sie sich in ihrer Gegenwart klein. Filsan hat sich freiwillig für den Einsatz im Norden gemeldet, in der Hoffnung, damit beweisen zu können, dass sie, eine Frau, sich der Revolution mehr verschrieben hat als alle ihre männlichen Altersgenossen. Hier kann man an vorderster Front bei der Bekämpfung der Banditen des National Freedom Movement, die die Regierung hartnäckig provozieren, wertvolle Arbeit leisten. Als sie sich umsieht, wird ihr plötzlich klar, dass durchaus Mitglieder der verbotenen Organisation unerkannt zwischen den Müttern in Tracht und den Schulkindern in Uniform durch die Tore schlüpfen könnten. Unmöglich, Feind und Freund auseinanderzuhalten.
    Sich auf diese Weise ein Paar neue Schuhe zu verdienen, war mühsam, aber für Deqo hat es sich gelohnt. In einem Monat Tanzunterricht hat sie den
Hilgo
, den
Belwo
, den
Dudi
und den überaus komplizierten
Halawalaq
gelernt. Sie ist keine schlechte Tänzerin, aber sie kann besser improvisieren als die Schrittfolgen einhalten, und selbst jetzt noch dreht sie sich nach links statt nach rechts, macht einen Schritt vorwärts statt rückwärts. Die Schuhe haben sie noch nicht zu Gesicht bekommen, aber während des Unterrichts kann Milgo-Zahnlos von nichts anderem reden. Im Schweiße ihres Angesichts haben sie sich diese Schuhe verdient, und Deqo gedenkt sie zu tragen wie ein Soldat seine Orden.
    «Denkt an die Schuhe. Wollt ihr diese Schuhe denn nicht? Wollt ihrewig barfuß gehen? Dann konzentriert euch!» Ein Akazienzweig peitscht über ihre Füße.
    Sie haben gelernt, zum Taktschlag von Milgos schwieliger Handfläche auf dem Boden einer Plastikschüssel zu tanzen, aber bei der Parade werden es richtige Trommeln, Trompeten, Gitarren sein. Vor Tausenden werden sie tanzen, sogar der Gouverneur der Region wird ihnen zusehen, also müssen sie
üben, üben, üben
.
    Jetzt ist der Tag der Parade endlich gekommen. Noch vor Morgengrauen wird die Truppe, fünf Mädchen und fünf Jungen, allesamt aus dem Waisenhaus, in den Hof hinter der Klinik des Flüchtlingslagers getrieben und beinahe zu Tode geschrubbt. Die stechend riechende Seife hat Deqos Augen gerötet, und sie reibt sie unausgesetzt, damit das Brennen nachlässt. Neben dem Apothekenzelt wartet ein Lastwagen, sie werden alle in traditionelle
macaweis
und
guntiino
gesteckt und dann hinten eingeladen. Der Lastwagen springt an, eine braune Rauchwolke stiebt aus dem Auspuff und Deqo klammert sich an der Seite fest, als sie schneller werden. Sie sitzt zum ersten Mal in einem Fahrzeug, und der starke Luftzug im Gesicht überrascht sie, ihre Haarspitzen werden herumgepeitscht wie an einem stürmischen Tag. Als der Lastwagen langsamer wird, lässt auch der Luftzug nach, und Deqo blinzelt wegen des aufstiebenden Schotters und presst die Lippen zusammen.
    Während die anderen Kinder die Lieder üben, die sie bei der Parade singen werden, wird Deqos Aufmerksamkeit vom Flüchtlingslager gefesselt, auf einmal sind die halbrunden hölzernen
aqals
nur noch Tupfen in der Landschaft. Von hier aus sind der Getreidespeicher und die verschiedenen Kliniken, die ständig von Flüchtlingen umlagert werden, nicht zu sehen, Streit, Groll und Traurigkeit weit weg. Die Straße schlängelt sich nach Hargeisa hinunter, die Landschaft ist bis auf den einen oder anderen Aloebusch, vereinzelte Tierknochen und Plastikschuhe kahl, der einzige Unterschied zum Lager ist die frische Luft. Der Horizont ist ganz blauer Himmel, lediglich ein Streifen Gelb weist ihnen den Weg, und es fällt schwer, sich vorzustellen, dass etwas Greifbares vor ihnen liegt. Beinahe erwartet Deqo, dass der Lastwagen über den Rand der Erde fällt, wenn er den gelben Streifen erreicht, aber stattdessenfährt er die schlecht geteerte Straße entlang, bis er den ersten Militärcheckpoint vor der Stadt erreicht.
    Kawsar und ihre Nachbarinnen quetschen sich auf die zweite Tribüne; das Stadion ist für dreitausend Zuschauer gedacht, aber heute drängen sich mehr als zehntausend darin. In ihre Gespräche vertieft, zwängen sich korpulente Frauen durch die schmalen Gänge, treten Kawsar auf die Zehen und halten sich an ihrem Arm fest, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Noch ist es kühl, aber es wird so heiß werden, dass sie sich vorkommen wie Leder, das in der Sonne trocknet. Kawsars Knie sind geschwollen, und bereits jetzt verlagert sie alle paar Minuten ihr Gewicht von einem Bein auf das andere.
    Das Fest des 21. Oktober ist
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