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Der futurologische Kongreß

Der futurologische Kongreß

Titel: Der futurologische Kongreß
Autoren: Stanislaw Lem
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rollen konnten. Ich unterbrach die Lektüre und vermerkte, die Verfasser der Arbeiten seien gewiß verrückt. Trottelreiner entgegnete frostig, ich zöge allzu vorschnelle Schlüsse. Das Eingebrockte müsse ausgelöffelt werden. Das Kriterium gesunder Vernunft sei auf die Menschheitsgeschichte nicht anwendbar. Averroes, Kant, Sokrates, Newton und Voltaire hätten auch nicht geglaubt, daß ein blechernes Wägelchen auf Rädern im 20. Jahrhundert zur Plage der Städte, zum Lungenvergifter, Massenmörder und Kultgegenstand werden sollte und daß die Leute vorzögen, in diesem Gerät bei Massenausfahrten am Wochenende zerschmettert umzukommen, anstatt heil daheim zu sitzen. Ich fragte welches Projekt der Professor zu unterstützen gedenke.
    »Ich habe mich noch nicht entschieden«, sagte er. »Das drückendste Problem bilden meines Erachtens die Heimchen – heimlich geborene Kinder. Außerdem befürchte ich Chemachinationen während der Debatten.«
    »Das heißt?«
    »Daß ein Projekt mit Hilfe von Glaubsalzen durchgedrückt wird.«
    »Sie meinen, man könnte euch dort unter Gift setzen?«
    »Warum nicht? Was ist leichter, als durch die Klimaanlage Aerosol in den Saal zu lassen?«
    »Was ihr auch immer beschließen mögt, daran braucht sich die Allgemeinheit nicht zu halten. Die Leute nehmen nicht alles willenlos hin.«
    »Mein Lieber, seit fünfzig Jahren entwickelt sich die Kultur nicht wildwüchsig. Im 20. Jahrhundert diktierte ein Dior die Kleidermode. Heutzutage umfaßt die Reglementierung bereits alle Lebensbereiche. Erlangt der Filialismus die Mehrheit, so wird in einigen Jahren jedermann das Verharren in einem weichen haarigen schwitzenden Körper schimpflich und anstößig finden. Den Körper muß man waschen, pflegen, von Gerüchen befreien – und dennoch verrottet er. Hingegen in der Filialkultur, da kannst du dich aus den schönsten Wunderwerken der Ingenieurkunst zusammenschalten. Welche Frau möchte nicht silberne Halogenlichter statt der Augen? Teleskopartig vorspringende Brüste? Engelsflügel? Waden mit Ausstrahlung? Fersen, die bei jedem Schritt melodische Klänge von sich geben?«

»Wissen Sie was?« – sagte ich. »Verduften wir. Raffen wir Sauerstoffvorräte und Proviant zusammen und verkriechen wir uns in die Rocky Mountains. Professor, Sie erinnern sich doch an die Hilton-Kanäle? Haben wir es dort etwa schlecht gehabt?« Der Professor schien zu zaudern. »Sie sprechen im Ernst?« – begann er. Wahrlich nicht mit Vorbedacht hob ich das Glasröhrchen an die Nase, das ich immer noch zwischen den Fingern hielt; ich hatte es völlig vergessen. Von dem stechenden Geruch kamen mir die Tränen; ich nieste einmal ums andere, und als ich die Augen wieder öffnete, da hatte sich das Zimmer verändert. Der Professor sprach weiter, ich hörte seine Stimme, doch ich war so überwältigt vom Eindruck der Verwandlung, daß ich kein Wort verstand. Schmutz überzog die Wände; der ehemals tiefblaue Himmel hatte sich ins bläulich Braungraue verfärbt; manche Fensterscheiben waren längst zerbrochen; auf den restlichen lag fettiger Ruß, grau durchstriemt von Regenspuren. Ich weiß nicht, warum, doch besonders verstörte mich der schimmelige Sack; als solcher entpuppte sich nämlich die schicke Aktenmappe, worin der Professor die Kongreßmaterialien mitgebracht hatte. Ich war wie versteinert. Ihn selbst wagte ich nicht anzuschauen. Ich schielte unter den Schreibtisch. Statt der Streifhosen und Gamaschen des Professors befanden sich dort lässig gekreuzte Prothesen. An den Sohlen, zwischen Sehnensträngen aus Draht, hatte sich ein wenig Kies und Straßenschmutz verklemmt. Der stählerne Fersenzapfen glänzte, durch Abnutzung glattgeschliffen. Ich stöhnte auf. »Was haben Sie? Kopfweh? Möchten Sie eine Tablette?« – drang die mitleidige Stimme in mich. Ich überwand mich und blickte zum Sprecher auf. Von seinem Gesicht war nicht viel übrig. In Fetzen klebte an den zerfressenen Wangen faulendes, lang nicht gewechseltes Verbandzeug. Selbstredend trug er noch Augengläser; das eine war gesprungen. Am Hals, in einer Öffnung, die von einem Luftröhrenschnitt herrührte, stak ein ziemlich schlampig eingeführter Vocoder und schwankte im Rhythmus der Stimme. Ums Brustgestell hing die Jacke, ein verschimmelter Lumpen. Links war ein Loch hineingeschnitten und mit einer getrübten Kunststoffscheibe vermacht. In bläulichgrauen Zuckungen schlug dahinter das Herz, strotzend von Klammern und Nähten. Die linke Hand sah
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