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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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I
    Über die Steintreppe hinunter zum Rhein halte ich mich an Papas Hand. Der Boden dampft.
    »Das ist, weil …«
    Ich glaube, auch mein Bruder versteht nicht, was Papa erklärt. »Kannst du das nicht weniger kompliziert erklären?«
    »Das Leben ist kompliziert, pass jetzt lieber auf die Stufen auf, nicht dass du wieder hinfällst.«
    Aus den Sträuchern tropft es uns in den Nacken. Am Wasser sind die Steinplatten sauber und nass, als hätte Gertrud sie geschrubbt. Anton hat wieder Papierschiffe gefaltet. Heute haben wir zwei mit. Das größere gehört ihm, dafür hat meines einen Kapitän und viele Matrosen. Aber das sage ich ihm nicht.
    »Papa, ich muss Pipi machen!«
    »Geh hinauf zu Mama!«
    »Nein, ich will hierbleiben. Ich will sehen, ob es stimmt.«
    Es stimmt. Anton drückt wirklich den Wurm, den wir aus der Erde gegraben haben, an den Haken von Papas Fischrute … »Hört auf, der Köter lebt ja noch, schaut, wie er sich wehrt!« »Das ist kein Köter, das ist ein Köder.«
    Papa wirft die Angel aus. Anton lehnt sich über den Baumstamm am Ufer und setzt sein Schiff sorgfältig aufs Wasser. Ich werfe mein Boot zu Boden, zertrete es. Antons Dampfer verfängt sich in den herabhängenden Blättern, füllt sich mit Wasser und wird unter einen Ast geschwemmt. Eine Frau, die ihr Haar mit einem getupften Kopftuch hochgebunden hat, schwimmt so nah am Ufer, dass Papa die Angel einziehen muss.
    »Grad jezz heti einä agibissu!« Er steht mit seinen hohen Stiefeln bis zu den Knöcheln in einer Wasserlache. Dort wäre Antons Schiff nicht untergegangen. Mit einem neuen Wurm am Haken fliegt die Leine wieder weit in den Fluss hinaus. Wir sollen in der Erde nach weiteren Würmern graben.
    »Ich muss Pipi machen!«
    »Endlich«, ruft Papa, »der wiegt bestimmt zwei Pfund!«
    Der Bruder will zuschauen, wie er den Fisch tötet, ich laufe in die Wohnung hinauf. Mama steht im Korridor und telefoniert. Die Sonnenstrahlen aus der Küche reichen gerade bis zum schwarzen Apparat, der an der Wand vor der Toilette hängt. Nach dem Pipi knöpft mir Mama die Träger zu, fast fällt ihr dabei der Hörer von der Schulter. Lachend macht sie mir Handzeichen, ich solle Zigaretten und einen Aschenbecher holen. Sie schwatzt mit einer Tanta.
    »Merci, Schazzji.«
    Ich gehe in die Küche und schließe die Tür, damit Mama im Finstern reden muss. Durch das abgeschrägte Fenster ist bloß der Himmel zu sehen, Wolken, nicht mehr viel Blau. Hoffentlich beginnt es nicht wieder zu blitzen und zu donnern. Ich klettere auf den Abwaschtrog und entdecke Papas Rücken. Auf dem Rhein sind ein paar Ruderer in einem roten Boot – sie verschwinden hinter den Bäumen.
    »Mama, wie lange telefonierst du noch!«
    Sie hält den Zeigefinger an ihre Lippen.
    Wenn ich im Treppenhaus mit beiden Füßen gleichzeitig von Tritt zu Tritt hüpfe, knarrt das Holz so laut, dass es Frau Brogli hören könnte. Sie will keine lauten Kinder im Haus. Seit ihr Papa ein Gebiss gemacht hat, sieht sie nicht mehr wie eine Hexe aus. Ich habe ihr das gesagt und auch, dass Mama gesagt hat, sie könne jetzt ruhig mal lachen. Wegen der handbemalten Vasen und der Porzellanfiguren schließt sie die Wohnung selbst tagsüber ab. Wenn ich ein Dieb wäre, würde ich ihr am liebsten das kleine Bügeleisen stehlen.
    Obwohl ich zweimal lange läute, öffnet Frau Brogli nicht.
    Papa setzt sich den Filzhut mit der Feder auf, hängt das Gewehr um und blinzelt mir zu. Er wird im Wald nur so tun, als ob er Tiere selber schießen würde.
    Vom Fenster aus beobachten wir, wie er in ein dunkelblaues Auto steigt.
    »Das ist ein Peugeot«, sagt Anton.
    Wenn Papa am Donnerstag nicht fischt oder mit Mama weggeht, fährt er mit diesem Mann zur Jagd. Es ist ein Patient von ihm, so groß und dick ist der, dass ihm das Steuer den Bauch einklemmt.
    »Gell, Mama, der nimmt den Stumpen nicht einmal beim Reden aus dem Mund.«
    »Na ja, ein Garagist …«
    Wir spazieren mit Mama zur Familie Eisenmann. Neben dem Dorfladen bleibt Anton stehen, laut liest er: »Sparkasse Stein«.
    »Was macht man dort?«
    »Sparen.«
    »Aber wir haben unser Sparkässeli doch daheim!«
    »Hier sparen die Erwachsenen.«
    »Wofür?«
    »Für die Dinge, die sie haben wollen.«
    »Was wollen …«
    Mein Bruder unterbricht mich und zeigt auf das Auto vor dem Doktorhaus. »Sobald Papa dem Jäger die schönen Zähne gemacht hat, bekommen auch wir ein solches Auto!«
    Er will wissen, weshalb unser Dorf
Stein
heißt.
    Das habe sie sich noch nie
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