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Der futurologische Kongreß

Der futurologische Kongreß

Titel: Der futurologische Kongreß
Autoren: Stanislaw Lem
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Worte.
    Die Debatten sollten am Nachmittag des ersten Tages beginnen, doch schon am Morgen erhielten wir die vollständigen Konferenzmaterialien in eleganter graphischer Ausstattung und mit zahlreichen Exponaten. Ein hübsches Bild boten insbesondere die Abreißblöcke aus blauem Hochglanzpapier mit dem Aufdruck: »Begattungspassierscheine«. Auch wissenschaftliche Konferenzen leiden heute unter der Bevölkerungsexplosion. Da die Anzahl der Futurologen mit gleicher Steigerung anwächst wie die ganze Menschheit, herrschen bei Kongressen Hast und Gedränge. Die Referate können nicht vorgetragen werden; jeder muß sie sich im voraus zu Gemüte führen. Doch am Morgen hatten wir keine Zeit dazu, denn die Gastgeber baten uns zu einem Gläschen Wein. Diese kleine Feier verlief fast ungestört, wenn man davon absieht, daß die Delegation der USA mit faulen Tomaten beworfen wurde. Beim Wein sprach ich mit einem Bekannten, dem Journalisten Jim Stantor von United Press International. Er sagte mir, daß Extremisten bei Tagesanbruch den amerikanischen Konsul in Costricana und den dritten Botschaftsattache entführt hätten und für die Freigabe der Diplomaten die Entlassung politischer Häftlinge verlangten. Um aber den Ernst der Forderungen zu betonen, hatten die Extremisten an die Botschaft und an regierende Kräfte vorerst einzelne Zähne der zwei Geiseln gesandt und die Eskalation angekündigt. Doch dieser Mißton beeinträchtigte keineswegs die herzliche Atmosphäre des Morgencocktails. Der Botschafter der USA kam persönlich und hielt eine kurze Ansprache über die Notwendigkeit internationalen Zusammenwirkens; allerdings standen rund um den Redner sechs breitschultrige Zivilisten, die uns aufs Korn nahmen. Ich gestehe, daß mich dies ein wenig verstörte, zumal da sich neben mir ein dunkelhäutiger indischer Delegierter in Anbetracht seines Schnupfens schneuzen wollte und nach dem Tuch in die Tasche langte. Der Pressesprecher der Futurologischen Gesellschaft versicherte mir nachher, die angewandten Mittel seien unerläßlich und menschenfreundlich gewesen. Die Bedeckung führe ausschließlich großkalibrige Waffen von geringer Durchschlagskraft, genau wie die Wachen an Bord der Linienflugzeuge. Demnach könne kein Außenstehender geschädigt werden, im Gegensatz zu früher, wo ein Geschoß nach Erlegung des Attentäters oft noch fünf bis sechs harmlose Sterbliche durchbohrt habe. Ein Mensch, der unter konzentriertem Beschuß vor deinen Füßen zusammensackt, ist nichtsdestoweniger kein erfreulicher Anblick, selbst dann nicht, wenn es sich um ein simples Mißverständnis handelt, das den Austausch diplomatischer Entschuldigungsnoten nach sich zieht.
    Doch statt auf das Sachgebiet menschenfreundlicher Ballistik abzuschweifen, sollte ich lieber erklären, wieso ich die Konferenzmaterialien während des ganzen Tages nicht durchblättern konnte. Ich will von der üblen Einzelheit absehen, daß ich rasch das blutige Hemd zu wechseln hatte; gegen meine Gewohnheit frühstückte ich dann im Hotelbuffet. Morgens esse ich immer weiche Eier, und in keinem Hotel der Erde können sie ans Bett serviert werden, ohne daß sie samt den Dottern eklig gerinnen. Dies ergibt sich selbstredend aus den stetig zunehmenden Ausmaßen der Hauptstadthotels. Wenn anderthalb Meilen die Kochküche vom Zimmer trennen, dann rettet nichts die Dotter vor dem Gerinnen. Soviel ich weiß, haben eigene Hilton-Fachleute dieses Problem untersucht und den Schluß gezogen, Abhilfe schüfen lediglich eigene Aufzüge mit Überschallgeschwindigkeit; jedoch der sogenannte ›Sonic Boom‹, der Knall beim Durchbrechen der Schallmauer, ließe in geschlossenem Raum die Trommelfelle platzen. Wir könnten vielleicht verlangen, der Küchenautomat solle rohe Eier liefern, und der Kellnerautomat solle sie vor unseren Augen im Zimmer weich kochen; doch dann könnten wir fast ebensogut einen Stall voll eigener Hühner ins Hilton mitschleppen! Aus diesen Gründen begab ich mich am Morgen ins Büffet. Heutzutage nehmen 95 von hundert Hotelgästen an irgendeiner Tagung oder Konferenz teil. Der Einsiedlergast, der Einlings-Tourist ohne Visitenkarte am Aufschlag und ohne prallgestopfte Mappe voll Konferenzpapierkram ist selten wie die Perle in der Wüste. Außer uns tagten damals in Costricana die Splittergruppe »Tiger« der Jugendlichen Gegenbewegung, die Verleger Befreiter Literatur und der Streichholzschachtelsammlerverband. Gewöhnlich werden die Mitglieder einer solchen
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