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Der futurologische Kongreß

Der futurologische Kongreß

Titel: Der futurologische Kongreß
Autoren: Stanislaw Lem
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und gab es an mich weiter. Statt des Messers erblickte ich ein morsches Aststückchen. Ich schaute wieder dem Professor ins Gesicht. Irgendwie bekümmert, nicht so selbstsicher wie am Vortag, legte er eine Aktenmappe voll Kongreßlutschbonbons auf den Schreibtisch und seufzte. »Sie müssen verstehen, Tichy: das Umsichgreifen der Maskone wird bislang nicht durch besondere Bosheit verursacht …«
    »Umsichgreifen? Was heißt das nun wiederum?«
    »Vieles, was vorigen Monat oder voriges Jahr noch real war, muß durch Vorspiegelungen ersetzt werden, weil die echten Stücke bereits unerreichbar sind« – erläuterte der Professor, von einem anderen Gedanken bedrückt, der ihm sichtlich keine Ruhe ließ.
    »Vor einem Vierteljahr bin ich auf diesem Karussell gefahren. Aber ob es noch dort ist? Ich möchte nicht Gift darauf nehmen. Vielleicht wird Ihnen beim Kauf einer Eintrittskarte eine Portion Karusselldunst oder Lunaparkin aus dem Zerstäuber verpaßt. Das wäre im übrigen sinnvoll, weil wesentlich billiger. Ja, Tichy, das reale Besitztum der Menschheit schrumpft mit beängstigender Beschleunigung dahin. Bevor ich hier einzog, war ich im neuen Hilton. Aber ich gestehe: dort konnte ich nicht leben. Denn als ich einmal unbedacht den Ausnüchterer benutzte, fand ich mich in einem Koben von der Größe einer besseren Schublade; meine Nase tauchte in die Freßrinne; zwischen die Rippen bohrte sich der Wasserhahn, und mit den Füßen berührte ich das Kopfende der Liegestatt im nächsten Schubfach, will sagen, Appartement. Denn ich hatte ein Appartement im achten Stock um 90 Dollar pro Tag. Der Platz, ganz einfach der Platz geht uns aus. Derzeit wird mit sogenannten Despacializern oder Psyschwündlern experimentiert, aber das geht schleppend voran. Denn wenn auf der Straße oder auf einem Platz die gleichzeitige Anwesenheit einer riesigen Menschenmenge solchermaßen maskiert wird, daß der einzelne nur die entfernten Individuen sieht, dann beginnt er mit den getarnten Leuten zusammenzustoßen, die er nicht wahrnimmt. Dieses Hemmnis hat sich bislang nicht überwinden lassen.«
    »Professor, ich habe in Ihre Notizen geguckt. Bitte verzeihen Sie mir, aber was ist das?« – ich deutete auf einen Zettel, der die Wort »Multischizol« und »Wimmelin-Mengol« aufwies. »Tja, das … Wissen Sie, es besteht der Plan, daß heißt, der Vorschlag der Hinternierung, benannt nach dem Namen des Autors, nicht wahr, Egobert Hintern. Der zunehmende Mangel an Außenraum soll durch halluzinierten Innenraum der Seele ausgeglichen werden, da die Größenverhältnisse dieser letzteren keinerlei physikalischen Beschränkungen unterliegen. Wie Sie sicherlich wissen, Tichy, kann man durch die Zooformine zeitweilig zur Schildkröte werden, das heißt, sich als solche fühlen, oder als Ameise, als Frauenkäferchen, ja, mit Hilfe von Florsezenzbotinid sogar als Jasmin, versteht sich, nur subjektiv. Man kann auch Persönlichkeitsspaltung erleben: zwei, drei, vier Teile … Bei Erreichen zweistelliger Spaltzahlen entsteht der Wimmeleffekt. Das ist dann nicht mehr Ichsicht, sondern Unsricht. Eine Vielheit von Ichs in einem einzigen Körper. Es gibt auch Nachicher, denn das gesteigert eindringliche Innenleben soll die Außeneindrücke überwiegen. So ist die Welt, so sind die Zeiten, Tichy! Omnis est pilula! Das Verzeichnis der offiziellen Mittel ist jetzt das Buch des Lebens, die Enzyklopädie allen Daseins, Alpha und Omega. Kein Umsturz ist in Sicht, denn wir haben ja schon Putschin, Oppositional in Glyzerinzäpfchen sowie Extremister, und Ihr lieber Doktor Hopkins wirbt für Sodomastol und Gomorral, womit man eigenhändig mittels himmlischen Feuers jede ersehnte Menge von Städten verbrennen kann. Auch zum Herrgott kann man sich ernennen lassen. Das kostet 75 Cents.«
    »Die neueste Kunstgattung ist das Jucken« – sagte ich. »Ich hörte, will sagen, fühlte das Scherzo von Kizzikizzi, aber ich kann nicht behaupten, daß mir dies in ästhetischer Beziehung irgend etwas gegeben hätte. Ich lachte an den ernstesten Stellen.«
    »Ja, das ist nichts für uns Tautröpfe aus dem verflossenen Jahrhundert, für uns Schiffbrüchige in der Zeit« – bestätigte Trottelreiner wehmütig. Dann schien er sich einen Ruck zu geben, räusperte sich, schaute mir in die Augen und sagte: »Tichy, soeben beginnt ein Futurologischer Kongreß. Ich meine Debatten über die menschliche Zukunde. Das ist die 76. Weltkonferenz. Ich war heute bei der ersten organisatorischen
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