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Der Funke des Chronos

Titel: Der Funke des Chronos
Autoren: Thomas Finn
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Als er genauer hinblickte, meinte er hinter einem der Fenster eine Bewegung zu bemerken. Aber selbst wenn einer der Anwohner noch wach war – hier, so nah am Hafen, ging man den Nachtwächtern lieber aus dem Weg.
    »Ist bereits ein Offizier vor Ort?«
    »Ah, Corporal Lüders hett sich den Toten schon anseh’n. Er is dor hinnen«, erklärte der Dicke verlegen und leuchtete in Richtung Brücke.
    »He speit sich grod de Seel ut«, ergänzte der Hagere. Kettenburg folgte dem Schein der Laterne und entdeckte im Dunkeln einen jungen Mann in Paradeuniform, der gegen eine Hauswand lehnte und würgte.
    »Wi heff een Kameraden to ’n Hopfenmarkt schickt un um weitere Hilfe beten. Is ober keener kumm.«
    Der Polizeiaktuar verbiss sich einen Kommentar.
    »Claas«, wandte er sich an seinen Kutscher, »fahr zur Wache und treib den Feldwebel auf. Richte ihm von mir aus, dass ich morgen beim Captain Meldung erstatte, wenn er nicht spätestens in einer halben Stunde hier ist.«
    »As sej wüllt, Herr Polizeiaktuar.«
    »Und er soll einen Arzt mitbringen.«
    Oder einen Abdecker, fügte Kettenburg in Gedanken hinzu. Das würde wahrscheinlich auf das gleiche hinauslaufen. Claas schnalzte und trieb die Pferde an, die schon unruhig mit den Hufen scharrten. Kurz darauf ratterte das Gefährt wieder in die Dunkelheit davon. Kettenburg schlug ungehalten nach einer Mücke.
    »Also, wer hat die Leiche gefunden?«
    »Dat war ik, Herr Polizeiaktuar«, meldete sich der Dicke.
    »Und dein Name?«
    »Jochen. Jochen Borchert.«
    »Gute Arbeit, Borchert«, lobte Kettenburg den Uhlen.
    Endlich trat der Corporal zu ihnen. Der junge Offizier war noch immer auffallend blass. Mit der Hand am Zweispitz grüßte er.
    »N’Abend. Herr Polizeiaktuar, nehme ich an?«
    »Corporal Lüders?«
    »Ja, ich …« Dem Mann versagte die Stimme. »Bitte entschuldigen Sie, aber … aber der Anblick der Leiche ist einfach grauenvoll. Ich frag mich, welcher Teufel zu so was imstande ist.«
    Kettenburg hatte Mitleid mit dem Mann.
    »Ich schlage vor, dass Sie mit einem Ihrer Wacher hier bleiben und auf Ihren Feldwebel warten. Und du, Bordiert« – er berührte den Dicken mit seinem Dienststock –, »führst mich zu dem Toten. Wo ist er überhaupt?«
    »Na, denn folgen Sie mi mol, Herr Polizeiaktuar.«
    Der Wacher wandte sich einer engen Seitengasse zu, die Kettenburg im Dunkeln völlig übersehen hätte. Nachdem sie Bergen von Unrat aus dem Weg gegangen waren, erreichten sie eine weitere kleine Straße, die geradewegs auf einen der Fleete zuführte. Das Schnauben eines Pferdes war zu hören. Kettenburg stellte zu seiner Überraschung fest, dass in der Gasse ein Leiterwagen stand, vor dem ein Gaul angeschirrt war. Gleich daneben, im Schmutz der Gosse, lag ein großes Stück Segeltuch, auf dem sich dunkle Flecken ausgebreitet hatten. Borchert hielt inne.
    »Dor is der Tote.«
    »Wie? Auf dem Leiterwagen?« Kettenburg nahm dem Wacher aufgeregt die Laterne ab. Warum hatte man ihm das nicht gleich gesagt? Das war weit mehr, als er erwartet hatte. Offenbar war der Mörder dabei gestört worden, den Toten im nahen Kanal zu versenken.
    Der Polizeiaktuar trat vorsichtig an den Wagen heran und hörte die Fliegen, noch bevor er das Blut roch. Er schluckte. Quer über der Ladefläche lag ein halbnackter, männlicher Toter mit heruntergerutschter Hose. Angesichts des Geschlechts des Opfers kamen Kettenburg einen Augenblick lang Zweifel, ob dieser Fall tatsächlich zu der Mordserie passte, mit deren Aufklärung er betraut war. Er trat dicht an den Wagen heran und erkannte zu seinem Entsetzen, dass das Gesicht des Toten nur noch aus einer blutigen Masse bestand, in der einige weißen Flecken schimmerten. Die Zähne. Auf Kettenburg wirkte es so, als müsse jemand mit einem Hammer auf den Kopf eingeschlagen haben. Hatte der Täter verhindern wollen, dass man sein Opfer erkannte? Kettenburg ließ das Licht der Laterne weiter über den Leichnam wandern. Wie bei den anderen. Nur dass der rechte Oberarm gebrochen war und in einem grotesken Winkel vom übrigen Körper abstand. Der weiße Knochen bildete einen deutlichen Kontrast zu dem Rot, das ihn umgab. Die Füße des Toten hingegen waren mit Hanfstricken zusammengebunden. Der Polizeiaktuar nahm schweren Herzens sein teures Taschentuch zur Hand und verscheuchte die Fliegen, die sich auf der Leiche niedergelassen hatten. Dann hob er den Körper an der Schulter an, um einen Blick auf den Hinterkopf zu werfen. Kettenburg zuckte zusammen,
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