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Der frühe Vogel kann mich mal: Ein Lob der Langschläfer (German Edition)

Der frühe Vogel kann mich mal: Ein Lob der Langschläfer (German Edition)

Titel: Der frühe Vogel kann mich mal: Ein Lob der Langschläfer (German Edition)
Autoren: Bettina Hennig
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Großteil der Arbeiter, deren Leistungsstärke so voll ausgeschöpft werden könnte, und das Gejammer über die faulen Jugendlichen würde endlich verstummen.
    Allein, es bleibt der Eindruck, dass die mangelnde Willenskraft nicht bei Langschläfern zu suchen ist, sondern bei denen, die früh aufstehen – hinsichtlich des Willens, etwas zu ändern. Denn dass Langschläfer automatisch mit Laxheit und Schlendrian in Verbindung gebracht werden, ist eine böse Unterstellung. Nicht nur, dass diese Gleichung auf falschen Prämissen beruht, auch der Umkehrschluss ist nicht gültig. Denn warum sollte jemand, der früh aufsteht, per se mehr leisten als einer, der sich fit schläft für die Herausforderungen des kommenden Tages? Was ist mit den vielen Schicht- und Nachtarbeitern, die zu später Stunde das Bruttosozialprodukt steigern und erst dann zu Bett gehen, wenn bei anderen bereits der Wecker klingelt – haben die nicht auch ein Recht auf ihren wohlverdienten Schlaf? Ohne, dass sie von ihrer Umwelt als Faulenzer verurteilt werden?
    Die Gebetsstunden der christlichen Liturgie, die im wahrsten Sinne des Wortes in aller Herrgottsfrühe beginnen, waren früher nur für klerikale Zirkel bestimmt. Auch die Bauern hatten ihre Mühe mit der Frühe. Die Kühe mussten gemolken, die Äcker bestellt werden; wer spät aufstand, sah nicht mehr viel vom Tag oder musste teuer für Talg, Kerzen und Petroleum bezahlen. Aber unser Leben funktioniert schon lange nicht mehr nach den Regeln von Ackerbau und Viehzucht. Der Münchener Chronobiologe Till Roenneberg, der den Zusammenhang von Schlafbedürfnis und innerer Uhr im Wandel der Zeit erforscht, erklärt: »Für die meisten Menschen gilt: Je weniger Tageslicht sie abbekommen, desto später bettet sich ihre innere Uhr in den wirklichen Tag ein. Wären wir alle noch Landwirte und säßen nicht so viel in dunklen Büros herum, gäbe es viel weniger Spätschläfer, aber auch weniger Menschen, die bereits um acht Uhr schlafen wollen.« [12] Dennoch hat sich der Appell an die Ausnutzung des Lichtes bis heute fortgesetzt. Wer früh aufsteht, gilt als guter Mensch und hat den gesellschaftlichen Konsens auf seiner Seite. Man sollte annehmen, dass seit Erfindung des Gaslichts im 19. Jahrhundert, spätestens aber seit Thomas Alva Edison um 1880 New York und von da aus die ganze Welt zum Leuchten gebracht hat, alle Vorurteile gegenüber Spätaufstehern hinfällig sind. Dennoch: Wer lange schläft und keine Lust verspürt, sich der Gewaltherrschaft der Aufgeweckten zu fügen, lebt ein Leben, das geprägt ist von Vorurteilen und Spott. Bekannt ist die Karikatur vom deutschen Michel, der Personifizierung von Schwerfälligkeit und unbeweglichem Gemüt, von Dumpfheit und Ignoranz. Seine Schlafmütze ist das Symbol des faulen, langsamen, trägen Zeitgenossen.
    Ein Blick in die Weltgeschichte zeigt allerdings: Viele der größten Köpfe und bedeutendsten Künstler waren bekennende Spätaufsteher: Kaiser Augustus ließ seine Träume vom beruhigenden Klang des Springbrunnens, der im Innenhof seines Palastes plätscherte, untermalen, bis ihn die Mittagssonne kitzelte – schrieb dann jedoch bis in die folgenden Morgenstunden an Gesetzen, Verfügungen und mancherlei Briefen. Friedrich Schiller arbeitete am Stehpult und mit reichlich Kaffee bis weit nach Mitternacht an seinen Stücken und durfte danach bis in den späten Mittag von niemandem, der nicht Opfer einer seiner gefürchteten Zornausbrüche werden wollte, behelligt werden. Sein Freund und Förderer Johann Wolfgang von Goethe machte schon in seinen Frankfurter Jugendjahren von sich reden, weil ihn keiner vor zehn Uhr morgens stören durfte. Robert Walser erfrischte sich durch ausgedehntes Ausschlafen von den langen Spaziergängen, die er mit Vorliebe bei Mondschein unternahm. Und Albert Einstein hätte wahrscheinlich seine Karriere als höherer Beamter des Berner Patentamtes beendet, hätte er nicht das Dunkel der Nacht genutzt, um die schwarzen Löcher des Universums zu erforschen. Die Liste der bedeutenden Spätaufsteher ist lang. Ob Marcel Proust oder Heinrich Heine, Jean-Paul Sartre, Bertolt Brecht, Simone de Beauvoir, Rahel Varnhagen van Ense, Voltaire oder Fürst Heinrich von Pückler-Muskau, Alexander von Humboldt oder sein Bruder Wilhelm, Leonardo da Vinci, John Lennon, Marion Gräfin Dönhoff, Brigitte Bardot, Marilyn Monroe, Marlene Dietrich, Ulrich Tukur, Coco Chanel, Tina Turner, Bertrand Russell, John F. Kennedy und Barack Obama – sie alle
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