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Der Fromme Dieb

Der Fromme Dieb

Titel: Der Fromme Dieb
Autoren: Ellis Peters
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keine ältere Schwester, etwas Ferneres als eine Blutsverwandte mit berechtigten Ansprüchen, und dennoch näher. Denn solche Bande, frei von jeder Verpflichtung und Verantwortung, sind auch frei von allen Schranken und können sich so schnell näherkommen, wie sie wollen. Und ihr blieb nur sehr wenig Zeit, um sich Beschränkungen zu unterwerfen. Ob der Junge das bewußt begriff, war nicht zu erkennen, aber er warf ihr einen leuchtenden, klaren Blick zu, der mehr beunruhigt als erstaunt war; seine Finger verweilten einen Augenblick, und er lächelte.
    »Meine Fingerkuppen sind wie aus Leder – seht!« Er streckte die Handflächen aus und spreizte die langen Finger. »Ich war über ein Jahr Harfenspieler bei meines Vaters Herrn auf dem Lehnsgut Berton, bevor ich ins Kloster von Ramsey eintrat. Still, jetzt laßt es mich versuchen! Da ein Saitenchor fehlt, müßt Ihr etwaige Makel entschuldigen.« Auch in seiner Stimme schwang ein Hauch von Nachsicht mit, eine Spur von Belustigung, als müßte er einen übertrieben besorgten Älteren von seiner Fertigkeit überzeugen.
    Er hatte den Stimmschlüssel in der Kiste neben dem Instrument gefunden und stimmte zunächst die Darmsaiten an den Stiften, in denen sie verankert waren. Das singende Murmeln schwoll an wie zu einem Chor von Insekten auf einer Sommerwiese, und Tutilos tonsurierter Kopf beugte sich völlig versunken über seine Arbeit, während Donata, in ihren Kissen ruhend, ihn unter halbgesenkten Lidern hervor beobachtete, und das um so aufmerksamer, als er ihr jetzt keine Beachtung schenkte. Und doch verband sie eine seltsame Vertrautheit, denn als plötzlich bei aller Anspannung ein leidenschaftliches Lächeln über seine Züge huschte, spielte bei seinem Anblick auch eines um ihre Lippen.
    »Wartet, eine der gerissenen Saiten in diesem Chor ist lang genug, um noch brauchbar zu sein. Besser eine als keine, obwohl Euch auffallen wird, wieviel schwächer der Klang ist.«
    Seine Finger, vom Harfenspiel gestärkt, waren sehr geschickt und hurtig im Umgang mit dem Instrument. »Fertig!« Er strich mit leichter Hand über die Saiten und erzeugte ein sanftes Rinnsal von Tönen. »Drahtsaiten wären lauter und kräftiger als Darm, aber die hier sind ausreichend.«
    Und er beugte den Kopf über das Instrument wie ein Falke im Sturzflug und begann mit geschmeidigen, tanzenden Fingern zu spielen. Der alte Resonanzboden vibrierte und bebte unter der Fülle der Klänge, die zu gewaltig schienen, um einen Ausweg durch die ausgesägte Rose in der Mitte zu finden.
    Cadfael rückte seinen Stuhl ein wenig vom Bett zurück, um die beiden im Blickfeld zu haben, denn es war interessant, sie zu beobachten. Der Junge war ohne Zweifel höchst begabt. In der Leidenschaft seines Spiels lag fast etwas Beunruhigendes.
    Es war, als wäre ein Vogel lange Zeit hindurch zum Schweigen verurteilt gewesen, bis seine erstickte Kehle schließlich die Sprache wiedergefunden hatte.
    Nach einer kleinen Weile war sein erster Hunger gestillt, und er ging zum moderaten Spiel über, um nunmehr dankbar und anmutig seiner Kunst zu frönen. Der funkelnde, wirbelnde Tanzrhythmus, trotz aller Leidenschaft leicht wie Distelwolle, mäßigte sich zu einer sanften Weise, die für ein so zartes Instrument besser geeignet war. Sogar zu einem Hauch von Wehmut, zu einer Art Ringellied, rhythmisch und melancholisch.
    Wo hatte er das gelernt? Gewiß nicht in Ramsey; so etwas, dachte Cadfael, wurde dort sicher nicht geschätzt.
    Weltverdrossen und wohlvertraut mit der Ironie von Leben und Tod, lag Lady Donata reglos in ihren Kissen und wandte den Blick nicht mehr von dem jungen Mann, der offenbar ihre Gegenwart völlig vergessen hatte. Sie war nicht die Zuhörerschaft, für die er spielte, sondern der tiefe Geist, der ihn aufsog. Sie verschlang ihn mit ihren großen blauen Augen und trank seine Musik, und die war Wein für ihren Durst. Einst, auf seiner Reise durch halb Europa, hatte Cadfael im Gras der Bergwiesen Enzian gesehen, blauer als blau, über die Maßen tiefblau wie ihre Augen. Ihre Lippen, schmerzlich lächelnd, erzählten eine andere Geschichte. Tutilo war für sie bereits kristallklar, sie wußte mehr von ihm als er selbst.
    Der liebevoll skeptische Zug um ihren Mund schwand, als er zu singen anhob. Die Melodie war zugleich einfach und erlesen, umfaßte nicht mehr als ein halbes Dutzend Noten, und seine Stimme – höher als beim Sprechen und sehr sanft und lieblich – besaß die gleichen Gegensätze, war
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