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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter
Autoren: Eliot Pattison
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an?«
    »Falls das hier eine Art tamzing ist, sollten Zeugen anwesend sein«, sagte Shan ungerührt. »Es gibt Regeln.«
    Tans Kopf bewegte sich nicht, aber sein Blick schoß empor und durchbohrte Shan. »Die Durchführung von Agitationsstunden fällt nicht in meinen Verantwortungsbereich«, sagte er sarkastisch und betrachtete Shan schweigend für einen Moment. »Am Tag deiner Ankunft hat Zhong mir deine Mappe geschickt. Ich glaube, sie hat ihm Angst eingejagt. Er beobachtet dich.«
    Tan deutete auf einen zweiten Ordner, der zwei oder drei Zentimeter dick war. »Er hat eine eigene Akte über dich angelegt. Schickt mir Berichte über dich. Ich habe sie nicht angefordert, er hat irgendwann einfach angefangen, sie zu schicken. Ergebnisse der tamzing- Sitzungen. Berichte über die Arbeitsleistung. Warum die Mühe? habe ich ihn gefragt. Du bist ein Phantom. Du gehörst Qin.«
    Shan blickte auf die beiden Mappen, eine davon mit lediglich einem einzigen vergilbten Blatt, die andere voller wütender Notizen eines verbitterten Gefängniswärters. Sein Leben davor. Sein Leben danach.
    Tan trank einen großen Schluck Tee aus seiner Tasse. »Aber dann hast du darum gebeten, den Geburtstag des Vorsitzenden zu feiern.« Er schlug die zweite Mappe auf und las die oberste Seite. »Höchst kreativ.« Er lehnte sich zurück und schaute dem Rauch hinterher, der sich zur Decke kringelte. »Hast du gewußt, daß vierundzwanzig Stunden nach deinem Banner Handzettel auf dem Marktplatz kursiert sind? Einen Tag später erschien eine anonyme Petition auf meinem Tisch, von der Kopien auf der Straße verteilt wurden. Wir hatten keine Wahl. Du hast uns keine Wahl gelassen.«
    Shan seufzte und hob den Blick. Das Geheimnis war gelüftet. Tan war zu dem Schluß gekommen, daß man ihn für seine Rolle bei Lokeshs Freilassung noch nicht ausreichend bestraft hatte. »Er hat fünfunddreißig Jahre hinter Gittern verbracht.« Shans Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. »An Feiertagen kam seine Frau und setzte sich draußen hin«, sagte er und wußte nicht, warum er das Bedürfnis verspürte, sich zu erklären. Er beschloß, sich an Mao zu wenden. »Sie durfte sich ihm nur bis auf fünfzehn Meter nähern«, sagte er zu dem Foto. »Das war zu weit, um miteinander reden zu können, also haben sie sich zugewinkt. Stundenlang haben sie einfach nur gewinkt.«
    Ein schmales Lächeln, dünn wie eine Rasierklinge, erschien auf Tans Gesicht. »Du hast Mut, Genosse Häftling Shan.« Der Oberst machte sich über ihn lustig. Ein Häftling verdiente den geheiligten Titel eines Genossen nicht. »Das war sehr schlau. Ein Brief wäre ein Disziplinarvergehen gewesen. Falls du versucht hättest, laut zu rufen, wärst du stummgeprügelt worden. Hättest du selbst eine Petition eingereicht, hätte man sie verbrannt.«
    Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. »Dennoch hast du Direktor Zhong wie einen Narren aussehen lassen. Dafür wird er dich auf ewig hassen. Er hat darum gebeten, daß du aus der Brigade verlegt wirst, und hat gesagt, du seiest ein Saboteur der sozialistischen Ordnung. Er könne nicht für deine Sicherheit garantieren. Die Wachen seien außer sich vor Wut. Minister Qins Ehrengast könnte ein Unfall zustoßen. Ich habe nein gesagt. Keine Verlegung. Kein Unfall.«
    Zum erstenmal sah Shan dem Oberst in die Augen. Lhadrung war ein Gulag-Bezirk, und im Gulag setzten die Gefängnisdirektoren stets ihren Willen durch.
    »Nicht ich war in Verlegenheit geraten, sondern er. Die Freilassung des alten Mannes war genau das Richtige. Ich habe ihm Lebensmittelkarten für doppelte Rationen gegeben.« Rauch trieb aus dem Mund des Oberst. Er zuckte die Achseln, als er Shans Blick bemerkte. »Als Ausgleich für das Versehen.«
    Tan klappte die Mappe zu. »Dennoch bin ich neugierig auf unseren geheimnisvollen Gast geworden. So politisch. So unsichtbar. Ich habe mich gefragt, ob ich vielleicht befürchten muß, daß du uns noch ein Hindernis in den Weg legst.« Er zog wieder an seiner Zigarette. »Ich habe selbst ein paar Nachforschungen in Peking angestellt. Keine weiteren Informationen, hieß es zunächst. Qin sei nicht zu sprechen. Er liege im Krankenhaus. Über Qins Gefangenen gebe es keine zusätzlichen Unterlagen.«
    Shan biß die Zähne zusammen und schaute wieder zur Wand. Diesmal schien der Vorsitzende zurückzustarren.
    »Aber meine Neugier war geweckt. Ich bin hartnäckig geblieben. Ich habe herausgefunden, daß die Aktennotiz aus dem Hauptquartier des
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