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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter
Autoren: Eliot Pattison
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erwartungsvoll auf. »Ein falscher Schritt, und du wirst mit bloßen Händen Steine brechen. Bis du tot bist.«
    »Ich strebe ständig danach, das in mich gesetzte Vertrauen des Volkes zu rechtfertigen«, sagte Shan, ohne mit der Wimper zu zucken.
    Die Worte schienen dem Direktor zu gefallen. Ein seltsamer Schimmer legte sich auf sein Gesicht. »Tan wird dich bei lebendigem Leibe auffressen.«
    Sergeant Feng sah ganz ungewohnt aus. Er wirkte nahezu fröhlich. Eine Fahrt nach Lhadrung, dem alten Marktflecken, der als Bezirkshauptstadt diente, war für die Wachen der 404ten ein seltenes Vergnügen. Er machte Witze über die alten Frauen und Ziegen, die vom Straßenrand flüchteten, weil der Geländewagen ihnen Angst einjagte. Er schälte einen Apfel, teilte ihn sich mit dem Fahrer und ignorierte Shan, der eingezwängt zwischen den beiden saß. Mit boshaftem Grinsen beförderte er mehrmals den Schlüssel zu Shans Handschellen von einer Tasche in die nächste.
    »Es heißt, der Vorsitzende persönlich habe dich hergeschickt«, sagte der Sergeant schließlich, als die niedrigen, flachen Gebäude der Stadt in Sicht kamen.
    Shan antwortete nicht. Er beugte sich vor und versuchte, die Aufschläge seiner Hose hochzukrempeln. Irgend jemand hatte eine ausgebeulte, viel zu große graue Hose und eine schäbige Soldatenjacke gebracht, die er anziehen sollte. Dann hatten sie ihn sich mitten im Büro umziehen lassen. Alle hatten in ihrer Arbeit innegehalten und ihn angestarrt.
    »Ich meine, warum sonst sollte man dich bei denen einsperren?«
    Shan richtete sich auf. »Ich bin nicht der einzige Chinese.«
    Feng grunzte, als fände er den Gedanken amüsant. »Ja, sicher. Echte Musterbürger, jeder einzelne. Jilin hat zehn Frauen ermordet. Die Öffentliche Sicherheit hätte ihm eine Kugel in den Kopf gejagt, wäre sein Onkel nicht Parteisekretär gewesen. Der Typ aus Gruppe Sechs hat die Sicherheitsausrüstung von einer Bohrinsel gestohlen, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Es gab einen Sturm, und fünfzig Männer sind ums Leben gekommen. Für ihn wäre eine Kugel viel zu gnädig gewesen. Alles Sonderfälle, ihr aus der Heimat.«
    »Jeder Gefangene ist ein Sonderfall.«
    Feng grunzte erneut. »Leute wie du, Shan, werden schon aus reiner Gewohnheit eingesperrt.« Er stopfte sich zwei Scheiben Apfel in den Mund. Momo gyakpa nannte man ihn hinter seinem Rücken, Fettkloß, weil sein Bauch so rund war und er das Essen immer so gierig verschlang.
    Shan wandte sich ab. Sein Blick richtete sich auf die weiten Heideflächen und Hügel, die sich wie ein wogendes Gewässer bis zum hohen, schneebedeckten Gebirge erstreckten. Bei diesem Anblick hätte man fast der Täuschung erliegen können, eine Flucht wäre tatsächlich möglich. Aber die Flucht würde immer eine Illusion bleiben, solange man keinen Ort hatte, an den man fliehen konnte.
    Spatzen huschten über die Heide. Bei der 404ten gab es keine Vögel. Nicht alle Gefangenen hatten so viel Respekt vor dem Leben. Sie aßen jeden Krümel, jedes Saatkorn und beinahe jedes Insekt. Voriges Jahr war ein Kampf um ein Rebhuhn ausgebrochen, das der Wind über den Zaun getrieben hatte. Der Vogel war in letzter Sekunde entkommen und hatte zwei der Männer mit jeweils einer Handvoll Federn hinter sich gelassen. Sie hatten die Federn gegessen.
    Das viergeschossige Haus, in dem die Regierung des Bezirks Lhadrung untergebracht war, hatte eine bröckelnde Fassade und dreckige Fenster, die im Wind klapperten. Feng stieß Shan die Treppe bis ins oberste Stockwerk empor, wo eine kleine grauhaarige Frau sie zu einem Warteraum brachte. Der Raum verfügte über ein einzelnes großes Fenster sowie an beiden Enden über je eine Tür. Wie ein neugieriger Vogel musterte die Frau Shan mit geneigtem Kopf und erteilte Feng eine scharfe Anweisung. Der Sergeant zuckte zusammen, nahm Shan mürrisch die Handschellen ab und zog sich dann auf den Gang zurück.
    »Ein paar Minuten«, verkündete sie und nickte in Richtung der Tür am anderen Ende. »Ich könnte dir einen Tee bringen.«
    Shan schaute sie verblüfft an und wußte, daß er sie eigentlich auf ihren Irrtum hinweisen sollte. Er hatte seit drei Jahren keinen echten grünen Tee mehr getrunken. Sein Mund öffnete sich, aber kein Laut drang daraus hervor. Die Frau lächelte und verschwand hinter der nahen Tür.
    Plötzlich war er allein. Die unerwartete Einsamkeit überwältigte ihn. Der inhaftierte Dieb befand sich plötzlich allein in einer Schatzkammer. Denn
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