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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter
Autoren: Eliot Pattison
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drehte sich um und sah die vogelähnliche Frau mit einer Tasse Tee dastehen. Sie reichte ihm die Tasse, huschte dann durch die Tür am anderen Ende und verschwand in einem verdunkelten Zimmer.
    Er stürzte die Hälfte des Tees in einem Schluck hinunter und ignorierte die Schmerzen, als er sich die Kehle verbrühte. Die Frau würde ihren Fehler bemerken und ihm die Tasse wieder wegnehmen. Er wollte sich an das Gefühl erinnern und in der Nacht auf seinem Bett noch einmal den Geschmack verspüren. Noch während er daran dachte, fühlte er sich erniedrigt und wurde wütend auf sich selbst. Das war ein verbreitetes Sträflingsspiel, vor dem Choje stets warnte: Man stahl sich kleine Stückchen der Welt, um in der Baracke darin zu schwelgen.
    Die Frau tauchte wieder auf und bedeutete ihm, den Raum zu betreten.
    Hinter einem ungewöhnlich langen, verzierten Schreibtisch, der vom Licht einer einzelnen Schwanenhalslampe erhellt wurde, saß ein Mann in einer makellosen Uniform. Nein, das war gar kein Schreibtisch, erkannte Shan, sondern ein Altar, den man in den Dienst der Regierung gestellt hatte.
    Der Mann musterte Shan schweigend und zündete sich eine teure amerikanische Zigarette an. Loto gai. Camels.
    Shan sah die vertraute Härte. Oberst Tans Gesicht wirkte, als hätte man es aus kaltem Feuerstein gemeißelt. Falls sie sich die Hände reichen sollten, würden Tans Finger ihm vermutlich die Knöchel abtrennen, dachte Shan.
    Tan stieß den Rauch durch die Nase aus und schaute auf die Teetasse in Shans Händen, dann zu der grauhaarigen Frau. Sie drehte sich um und zog die Vorhänge auf.
    Shan wußte auch ohne das Sonnenlicht, was sich an den Wänden des Büros befand. Er hatte in ganz China unzählige dieser Büros gesehen. Es würde ein Foto des rehabilitierten Mao geben, Bilder des Militärlebens, Fotos von irgendeinem Lieblingskommando, eine Ernennungsurkunde und mindestens einen Wahlspruch der Partei.
    »Setz dich«, befahl der Oberst und wies auf einen Metallstuhl vor dem Tisch.
    Shan setzte sich nicht. Er starrte auf die Wände. Mao war da, aber nicht der rehabilitierte, sondern ein Foto aus den Sechzigern, auf dem das vorstehende Muttermal auf seinem Kinn zu sehen war. Die Urkunde gab es auch und außerdem ein Foto mit lächelnden Armeeoffizieren. Darüber hing das Bild einer Atomrakete, über die man eine chinesische Flagge drapiert hatte. Einen Moment lang konnte Shan gar keinen Wahlspruch entdecken, aber dann sah er das verblichene Poster hinter Tan. »Das Volk braucht Wahrheit«, stand dort zu lesen.
    Tan schlug eine schmale, fleckige Mappe auf und starrte Shan mit eisigem Blick an.
    »Der Staat hat mir im Bezirk Lhadrung die Umerziehung von neunhundertachtzehn Häftlingen anvertraut.« Er sprach in dem sanften, selbstsicheren Tonfall eines Mannes, der daran gewöhnt war, stets mehr zu wissen als seine Zuhörer. »Fünf Zwangsarbeitsbrigaden und zwei Landarbeiterlager.«
    Da war etwas, das Shan zunächst nicht bemerkt hatte: kleine Fältchen unter dem kurzgeschorenen ergrauenden Haar und ein Anflug von Müdigkeit um den Mund. »Neunhundertsiebzehn davon haben Akten. Wir können sagen, wo jeder von denen geboren wurde, aus welcher Klasse er stammt, wo er zum erstenmal denunziert wurde, welche Parolen er gegen den Staat in Umlauf gebracht hat. Aber über diesen einen Mann gibt es lediglich eine kurze Aktennotiz aus Peking. Nur eine einzige Seite über dich, Häftling Shan.« Tan verschränkte die Hände über der Mappe. »Du bist hier auf besondere Einladung eines Angehörigen des Politbüros. Wirtschaftsminister Qin. Der alte Qin aus der Achten Armee des Langen Marsches. Einziger Überlebender der von Mao Ernannten. Haftdauer unbegrenzt. Kriminelle Verschwörung. Sonst nichts. Verschwörung.« Er zog an der Zigarette und musterte Shan. »Was war es?«
    Shan faltete die Hände und starrte zu Boden. Es gab weitaus schlimmere Orte als den Stall. Zhong brauchte nicht erst Tans Erlaubnis, um ihn in den Stall zu schicken. Es gab Gefängnisse, in denen die Häftlinge niemals die Zellen verließen, außer nach ihrem Tod. Und für diejenigen, deren Gedankengut zu ansteckend war, gab es geheime medizinische Forschungseinrichtungen, die von Ärzten des Büros für Öffentliche Sicherheit geleitet wurden.
    »Verschwörung zum Meuchelmord? Verschwörung zur Veruntreuung von staatlichen Mitteln? Zum Beischlaf mit der Frau des Ministers? Zum Diebstahl seiner Kohlköpfe? Warum vertraut Qin uns diese Information nicht
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