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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter
Autoren: Eliot Pattison
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fehlte es Shan nicht. Gründlicher als alle Lehrer zuvor hatte Choje ihm beigebracht, wie man sich sammelte. Während der langen Wintertage, wenn der Direktor sie im Lager behielt - nicht etwa aus Sorge um die Gefangenen, sondern weil er befürchtete, Wachen zu verlieren -, hatte Choje ihm zu einer außergewöhnlichen Erkenntnis verhelfen. Um ein Untersuchungsbeamter zu sein, was der einzige Beruf war, den Shan in der Zeit vor dem Gulag jemals ausgeübt hatte, mußte man eine gequälte Seele besitzen. Ein guter Ermittler konnte keinen Glauben haben. Alles war verdächtig, alles war vergänglich, bewegte sich von unerwiesenen Behauptungen zu Fakten zu Ursachen zu Wirkungen zu neuen Geheimnissen. Es konnte keinen Frieden geben, denn nur der Glaube brachte Frieden. Nein, an Klarheit mangelte es ihm ganz bestimmt nicht. In Augenblicken wie diesem, wenn dunkle Vorahnungen schwer auf ihm lasteten und sein früheres Leben wie eine Ankerkette an ihm zerrte, fehlte ihm vor allem eines: ein innerer Gott.
    Er sah, daß dort unterhalb von Chojes Händen etwas auf dem Boden lag. Der blutige Stein. Shan erschrak, denn auf einmal wurde ihm klar, daß er und Choje an die gleiche Angelegenheit dachten. Der Abt rief seinen Priestern deren Pflicht ins Gedächtnis. Shans Mund wurde trocken. Er wollte laut protestieren und sie anflehen, sich wegen eines toten Ausländers nicht selbst zu gefährden, aber das mudra ließ ihn wie unter einem Zauberbann schweigen.
    Shan schloß die Augen, es gelang ihm jedoch nicht, sich auf Chojes Botschaft zu konzentrieren. Bei jedem Versuch stieg ein anderes Bild vor ihm auf. Immer wieder sah er das goldene Feuerzeug, das dort hundertfünfzig Meter über dem Talgrund lag. Und den toten Amerikaner, der ihm in seinem düsteren Tagtraum ein Zeichen gegeben hatte.
    Plötzlich ertönte von der Tür her ein leises Pfeifen. Die Kerzen wurden gelöscht, und kurz darauf ging das Deckenlicht an. Ein Wachposten riß die Tür auf und trat in die Mitte des Raums. In seiner Armbeuge lag der Stiel einer Spitzhacke. Hinter ihm folgte Leutnant Chang. Mit gespielter Feierlichkeit streckte Chang höhnisch ein Kleidungsstück vor sich aus, so daß alle Gefangenen es erkennen konnten. Es war ein sauberes Hemd. Ruckartig hielt er es nacheinander in die Richtung mehrerer Männer, als würde er einen Scheinangriff mit einer Klinge führen, und lachte dabei. Dann schleuderte er es plötzlich Shan entgegen, der auf dem Boden der Hütte lag.
    »Morgen früh«, brüllte er und marschierte hinaus.
    Als Sergeant Feng ihn am nächsten Morgen durch den Drahtverhau begleitete, blies Shan ein eiskalter Wind ins Gesicht. Die 404te war heftigen Wind gewohnt. Ihr Lager befand sich am Fuß der nördlichsten Kette der Drachenklauen, einer gewaltigen Felswand, die hinter den Baracken beinahe senkrecht emporstieg. Die Aufwinde rissen manchmal die Dächer von den Hütten, und die Fallwinde ließen bisweilen Geröll auf sie niederprasseln.
    »Bereits herabgesetzt«, sagte Sergeant Feng leise, als er das Tor hinter ihnen abschloß. »Niemand, der bereits herabgesetzt war, hat je das Hemd erhalten.« Er war ein kleiner, massiger Stier von einem Mann, mit dickem Bauch und breiten Schultern. Die vielen Jahre als Wachposten in Sonne, Wind und Schnee hatten seine Haut so ledrig wie die der Gefangenen werden lassen. »Alle warten. Und schließen Wetten ab«, fügte Feng mit trockenem Krächzen hinzu, bei dem es sich nach Shans Ansicht wohl um ein Lachen handeln mußte.
    Shan wollte sich dazu zwingen, ihm nicht zuzuhören, nicht an den Stall zu denken, sich nicht an Zhongs rasenden Zorn zu erinnern.
    Diesmal hatte Zhong seine Gereiztheit unter Kontrolle. Aber das hämische Grinsen, mit dem der Direktor ihn umkreiste, ängstigte Shan mehr als der erwartete Wutanfall. Er faßte sich an den rechten Oberarm, der in Zhongs Gegenwart oft zu zucken begann. Bei einer früheren Gelegenheit hatten sie dort Batteriedrähte angebracht.
    »Falls er sich die Mühe gemacht hätte, mit mir Rücksprache zu halten, hätte ich ihn gewarnt«, sagte Zhong in dem flachen nasalen Tonfall der Provinz Fujian. »Jetzt wird er selbst herausfinden müssen, was für ein verfluchter Unruhestifter du bist.« Zhong nahm ein Blatt Papier von seinem Schreibtisch, las es und schüttelte ungläubig den Kopf. »Parasit«, zischte er und hielt dann inne, um das Blatt zum Zeichen der Kenntnisnahme mit seiner Unterschrift zu versehen.
    »Es wird nicht lange dauern«, sagte er und schaute
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