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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter
Autoren: Eliot Pattison
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nächsten Tag in den Schutz deiner Baracke zurückkehren. Am folgenden Tag bekommst du deine Stiefel wieder. Dann deinen Mantel. Danach deine Blechschale. Dann die Decke, den Strohsack und schließlich das Bett.«
    »Du hast gesagt, das sind diejenigen, die Glück haben. Was ist mit den anderen?«
    Der junge Priester unterdrückte ein Schaudern. »Der Direktor schickt sie zu Oberst Tan.«
    »Der berühmte Oberst Tan«, murmelte der khampa und schaute unvermittelt auf. »Wieso ein sauberes Hemd?«
    »Der Direktor ist ein anspruchsvoller Mann.« Der Priester blickte zu Trinle, als sei er unsicher, was er als nächstes sagen sollte. »Manchmal werden diejenigen, die gehen, an einen anderen Ort geschickt.«
    Der khampa schnaubte wütend, als er die verborgene Bedeutung der Worte des Priesters erkannte, und umkreiste dann argwöhnisch Shan. »Er ist ein Spion. Ich kann es riechen.«
    Trinle seufzte, nahm die Sachen des khampa und trug sie zu dem freien Bett neben der Tür. »Diese Pritsche hat einem alten Mann aus Shigatse gehört. Dank Shan ist er hier herausgekommen.«
    »Vermutlich hat er sich für die Viererwahl entschieden.«
    »Nein. Er wurde freigelassen. Sein Name war Lokesh. Unter der Regierung des Dalai Lama war er Steuereintreiber gewesen. Und nach fünfunddreißig Jahren rufen sie ihn plötzlich auf und öffnen das Tor.«
    »Du sagst, dieser Reisfresser hat das bewirkt?«
    »Shan hat einige Worte der Macht auf ein Banner geschrieben«, schaltete Choje sich ein und nickte langsam.
    Der khampa starrte Shan mit offenem Mund an. »Also bist du so eine Art Zauberer?« Sein Blick war nach wie vor haßerfüllt. »Wirst du denn auch für mich ein bißchen Magie anwenden, Schamane?«
    Shan beachtete ihn nicht. Sein Blick war auf Chojes Hände gerichtet. Bald würde die Abendliturgie beginnen.
    Trinle drehte sich mit traurigem Lächeln um. »Für einen Zauberer kann unser Shan ganz gut Steine schleppen«, seufzte er.
    Der khampa murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und schleuderte seinen Stiefel zu dem Bett neben der Tür. Er gab nicht wegen des Chinesen nach, sondern wegen der Priester. Um keinen Zweifel daran bestehen zu lassen, wandte er sich an Shan. »Leck mich am Arsch, du Scheißkerl«, grunzte er. Als niemand davon Notiz nahm, kam ihm unversehens eine Idee. Er ging zu Shans nackter Holzpritsche, öffnete die Schleife des Stricks, der um seine Taille geschlungen war, und urinierte auf die Bretter.
    Niemand sagte etwas.
    Choje stand langsam auf und fing an, die Pritsche mit seiner eigenen Decke zu säubern.
    Das siegessichere Strahlen verschwand vom Gesicht des khampa. Er fluchte leise, drängte dann Choje sanft beiseite, zog sein Hemd aus und beendete die Aufgabe.
    Vor zwei Jahren war schon einmal ein khampa in ihrer Baracke gewesen, ein kleiner Hirte mittleren Alters, den man eingesperrt hatte, weil er sich nicht bei einer der landwirtschaftlichen Kooperativen anmelden wollte. Nachdem seine Familie einer Patrouille in die Hände gefallen war, hatte er fast fünfzehn Jahre allein gelebt und war schließlich nach dem Tod seines Hundes in eine Stadt im Tal gewandert. Shan hatte noch nie zuvor jemanden gesehen, dessen Verhalten so viel Ähnlichkeit mit dem eines eingesperrten Tiers aufwies. Unstet lief er in der Hütte umher wie ein Bär in einem Käfig. Immer wenn er Shan ansah, glich sein Gesicht einer kleinen, vor Wut geballten Faust.
    Aber der kleine khampa liebte Choje wie einen Vater. Als einer der Offiziere, der wegen seiner Vorliebe für den Schlagstock nur Leutnant Knüppel genannt wurde, seinen Stock gegen Choje erhob, weil dieser eine volle Schubkarre umgeworfen hatte, sprang der khampa auf den Rücken des Offiziers, prügelte auf ihn ein und verfluchte ihn. Knüppel lachte und tat so, als würde er ihn gar nicht bemerken. Als der khampa eine Woche später aus dem Stall freigelassen wurde, hinkte er, weil sie irgend etwas mit seinem Knie angestellt hatten. Sobald er in der Baracke war, riß er Streifen von seiner Decke ab und fing an, auf der Innenseite seines Hemds Taschen anzunähen. Trinle und die anderen sagten ihm, daß der Gedanke an eine Flucht durch die Berge völlig sinnlos sei, selbst wenn es ihm gelingen würde, in seinen neuen Taschen genug Nahrung für mehrere Tage anzusammeln.
    Eines Morgens, nachdem er die Arbeit an seinen Taschen beendet hatte, bat er Choje um einen besonderen Segen. An ihrer Arbeitsstätte am Berg begann er, die Taschen mit Steinen zu füllen. Er arbeitete immer
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