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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter
Autoren: Eliot Pattison
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ihn ehrfurchtsvoll und musterte ihn von allen Seiten, als läge dann eine Erkenntnis verborgen. Als er das Geheimnis erkannte, legte sich eine große Traurigkeit über sein Antlitz. Der Stein war von getrocknetem Blut überzogen. Choje schaute auf und blickte abermals zu Shan herüber. Dann nickte er ernst, als wolle er Shans schlimme Vorahnung bestätigen. Der Mann mit den amerikanischen Jeans hatte dort, mitten auf ihrer Straße, seine Seele verloren. Die Buddhisten würden sich weigern, die Arbeit an diesem Berg fortzusetzen.
    Als die Lastwagen im Innern des Lagers anhielten, verschwanden die Rosenkränze. Signalpfeifen ertönten, und die Planen wurden losgeschnürt. Durch das graue Licht der Abenddämmerung trotteten die Gefangenen schweigend in die flachen Holzbaracken, in denen sie untergebracht waren, und kamen gleich darauf wieder mit ihren Blechschalen zum Vorschein, die jedem der Männer zugleich als Waschbecken, Eßteller und Teetasse dienten. Sie reihten sich auf einer Seite der Kochhütte auf, um sich ihre Näpfe mit Gerstenbrei füllen zu lassen, und standen dann essend im Freien herum. Mit dem warmen Brei im Magen wurden sie wieder etwas munterer. Wortlos nickten sie einander zu und lächelten sich erschöpft an.
    Falls jemand ein Wort sagte, würde man ihn im Stall übernachten lassen.
    Nachdem sie wieder in der Unterkunft waren, hielt Trinle den neuen Häftling auf, als dieser den Raum durchquerte. »Hier nicht«, sagte der Mönch und wies auf ein Rechteck, das man mit Kreide auf den Boden gezeichnet hatte.
    Der drahtige khampa, für den die unsichtbaren Altäre der Sträflingsbaracken offenbar nichts Neues bedeuteten, zuckte die Achseln und ging um das Rechteck herum zu einem freien Bett in der Ecke des Raums.
    »Neben der Tür«, sagte Trinle leise. Er sprach stets im gleichen bedächtigen Tonfall, als würde er jeden wachen Moment seines Daseins ehrfürchtig verfolgen. »Dein Bett ist neben der Tür«, wiederholte er und bot sich an, die Sachen des Mannes zu tragen.
    Der Mann schien ihn nicht gehört zu haben. »Bei Buddhas heiligem Atem!« keuchte er und schaute auf Trinles Hände. »Wo sind deine Daumen?«
    Trinle blickte zu seinen Händen hinunter. »Ich habe keine Ahnung«, sagte er mit einem Anflug von Neugier, als hätte er noch nie über diese Frage nachgedacht.
    »Diese Schweinehunde. Die haben dir das angetan, nicht wahr? Damit du deine Gebetskette nicht benutzen kannst.«
    »Ich komme dennoch zurecht«, erwiderte Trinle. »Neben der Tür.«
    »Hier sind aber zwei freie Betten«, entgegnete der Mann. Er war kein Priester. Er lehnte sich auf dem Strohlager zurück, als würde er Trinle herausfordern, ihn eigenhändig von dort zu vertreiben. Die Leute aus Kham waren die entschlossensten Widerstandskämpfer gewesen, die sich je gegen die Volksbefreiungsarmee erhoben hatten. Noch immer wurden manche von ihnen in den entlegenen Gebirgsregionen wegen angeblicher Sabotageakte verhaftet. Außerhalb ihres Gebiets war es den khampas der südlichen Stämme, die sich noch lange nach der Unterwerfung des restlichen Tibets gegen die Armee gewehrt hatten, weiterhin verboten, eine Waffe zu besitzen. Sogar die Klingen ihrer Messer durften nicht länger als zwölf Zentimeter sein.
    Der Mann zog einen seiner abgerissenen Stiefel aus und holte mit großer Geste ein Stück Papier aus seiner Tasche. Es war ein Blatt aus einem der Kontrollbücher der Wachen, die manchmal vom Wind aufgeschlagen wurden. Mit übertrieben breitem Grinsen hielt er es empor und schob es als zusätzliche Wärmedämmung in seinen Stiefel. Für das Leben in der 404ten waren selbst winzigste Siege von Bedeutung.
    Während er sich die Lumpen, die ihm als Socke dienten, erneut um den Fuß wickelte, musterte der Neuankömmling seine Zellengenossen. Shan hatte diese gleichbleibende Prozedur schon weitaus öfter mit angesehen, als er zählen konnte. Jeder neue Gefangene hielt zuerst nach dem Oberpriester Ausschau, dann nach den Schwachen, die keinen Ärger machen würden. Er suchte nach denen, die bereits aufgegeben hatten, und nach denen, die vielleicht Spitzel waren. Der erste Punkt auf dieser Liste war schnell abgehakt. Der Blick des khampa richtete sich sofort auf Choje, der neben einem der mittleren Betten im Lotussitz auf dem Boden saß und noch immer den Stein in seiner Hand betrachtete. Niemand in der Hütte, ja sogar niemand in der gesamten lao gai -Brigade strahlte eine solche Gelassenheit aus.
    Einer der jungen Mönche holte ein
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