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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter
Autoren: Eliot Pattison
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paar Blätter aus der Tasche. Sie stammten von dem Unkraut, das auf den Berghängen wuchs. Trinle zählte die Blätter ab und verteilte sie, so daß jeder Gefangene eines davon erhielt. Die Mönche nahmen ihr jeweiliges Blatt feierlich entgegen und flüsterten ein Mantra des Danks für den Mann, der turnusgemäß an der Reihe gewesen war, für das Sammeln der Pflanzen eine Bestrafung zu riskieren.
    Trinle drehte sich wieder zu dem khampa um, der inzwischen auf seinem Blatt kaute. »Es tut mir leid«, sagte er. »Shan Tao Yun schläft dort.«
    Der khampa wandte sich zur Seite und richtete seinen Blick auf Shan, der neben Choje auf dem Boden saß.
    »Der Reisfresser?« stieß er verächtlich hervor. »Kein khampa läßt sich von einem verdammten Reisfresser Vorschriften machen.« Er lachte und schaute sich um. Niemand fiel in das Gelächter ein.
    Das Schweigen schien ihn noch weiter anzustacheln. »Sie haben unser Land gestohlen. Sie haben unsere Klöster gestohlen. Unsere Eltern. Unsere Kinder«, rief er und musterte die Mönche mit wachsender Ungeduld.
    Die Mönche sahen einander unangenehm berührt an. Der Haß in der Stimme des Mannes war wie ein ungebetener Gast in ihrer Baracke.
    »Und das war erst der Anfang, um ihnen die Zeit zu verschaffen, die wirkliche Aufgabe in Angriff zu nehmen. Jetzt stehlen sie uns unsere Seelen. Sie schicken ihre Leute in unsere Städte, in unsere Täler, in unsere Berge. Sogar in unsere Gefängnisse. Um uns zu vergiften. Um uns wie sie werden zu lassen. Unsere Seelen verkümmern. Unsere Gesichter verschwinden. Jeder von uns wird zu einem Niemand.«
    Er fuhr plötzlich herum und schaute zu den gegenüberliegenden Betten herüber. »In meinem letzten Lager ist es passiert. Sie haben alle ihre Mantras vergessen. Eines Tages sind sie aufgewacht, und ihr Gedächtnis war leer. Kein einziges Gebet war mehr da.«
    »Sie werden die Gebete niemals aus unseren Herzen reißen können«, sagte Trinle und warf Shan einen besorgten Blick zu.
    »Verdammt! Sie reißen uns das Herz gleich mit heraus. Also kann niemand weiterkommen, niemand erreicht mehr Buddha, Es geht immer nur abwärts, von einer Lebensform in eine niedere Gestalt. Im letzten Lager haben sie einen alten Mönch mit Politik vollgestopft. Eines Morgens wachte er auf und stellte fest, daß er als Ziege wiedergeboren worden war. Ich habe ihn gesehen. Die Ziege hat sich in die Warteschlange zum Essen fassen eingereiht, und zwar genau an der Stelle, an der sonst der alte Priester gestanden hat. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Es war so, wie ich euch sage. Eine Ziege. Die Wachen haben ihn mit dem Bajonett niedergestochen und ihn dann direkt vor unseren Augen auf einem Spieß gebraten. Am nächsten Tag haben sie einen Eimer Scheiße von der Latrine mitgebracht und gesagt: Seht nur, was jetzt aus ihm geworden ist.«
    »Du brauchst die Chinesen gar nicht, um vom Weg abzukommen«, sagte Choje. »Allein dein Haß wird völlig dafür ausreichen.« Seine Stimme war sanft und fließend, wie Sand, der auf einen Stein rieselte.
    Der khampa zuckte zurück. Aber der wilde Zorn lag weiterhin in seinem Blick. »Ich werde nicht als verdammte Ziege aufwachen. Vorher bringe ich jemanden um«, sagte er und starrte erneut wütend zu Shan herüber.
    »Shan Tao Yun wurde herabgesetzt«, erklärte Trinle ruhig. »Er wird morgen in sein Bett zurückkehren.«
    »Herabgesetzt?« spottete der khampa höhnisch.
    »Das ist eine der Strafen«, erwiderte Trinle. »Hat dir niemand das System erläutert?«
    »Die haben mich aus dem Wagen gestoßen und mir eine Schaufel in die Hand gedrückt.«
    Trinle nickte einem der jungen Mönche zu, die in der Nähe saßen. Eines der Augen des Mannes war milchigweiß. Er ließ sofort seine Gebetskette sinken und nahm zu Füßen des khampa Platz.
    »Wenn du eine der Regeln des Direktors brichst, schickt er dir ein sauberes Hemd«, erklärte der Mann. »Du hast vor ihm zu erscheinen. Falls du Glück hast, wirst du herabgesetzt. Das bedeutet die sofortige Aberkennung von allem, das dir Bequemlichkeit verschafft, abgesehen von den Kleidern, die du am Leib trägst. Die erste Nacht verbringst du draußen, in der Mitte des Antreteplatzes. Falls gerade Winter ist, wirst du in jener Nacht deinen Körper verlassen.«
    Während seiner drei Jahre hatte Shan sechs dieser Fälle gesehen, die wie Altarstatuen weggetragen wurden, steif gefroren im Lotussitz, die provisorische Gebetskette fest umklammert.
    »Falls nicht Winter ist, darfst du am
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