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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter
Autoren: Eliot Pattison
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schwieligen, knochenharten Hände. »Man hat mich vor einer Rückentwicklung gewarnt«, protestierte er. »Ich bin jetzt Straßenarbeiter. Man erwartet von mir, daß ich in neuen Bahnen denke. Ich arbeite für den Wohlstand des Volkes.« Das war die letzte Zuflucht der Schwachen. Wenn du nicht weiterweißt, flüchte dich in Parolen.
    »Falls keiner von uns eine Vergangenheit hätte, gäbe es keine Arbeit für die Politoffiziere«, merkte Tan an. »Die fehlende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, das ist die wahre Sünde. Ich will, daß du dich dieser Auseinandersetzung stellst. Ruf den Inspekteur ins Leben zurück. Nur für eine kurze Weile. Ich weiß nicht, welche Formulierungen das Ministerium erwartet, denn ich spreche diese Sprache nicht. Niemand hier tut das. Ich möchte, daß eine Fallakte angelegt wird, die schnell geschlossen werden kann. Die Unterstützung des Anklägers steht mir leider nicht zur Verfügung, und ich werde die Angelegenheit nicht über viele tausend Kilometer hinweg mit ihm am Telefon erörtern. Jemand muß den Fall in eine Form bringen, die vom Jus tizministerium verstanden wird und keine zusätzlichen Untersuchungen nach sich zieht, und ich wette, du beherrschst die Sprache von Peking noch immer.«
    Shan ließ sich auf den Stuhl sinken. »Das können Sie nicht tun.«
    »Ich erbitte doch gar nicht so viel«, sagte Tan mit falscher Herzlichkeit. »Keine richtigen Ermittlungen, sondern lediglich einen Bericht, der die Angaben im Totenschein stützt. Eine Erklärung für den vermuteten Unfall, der leider zu diesem unglücklichen Ergebnis geführt hat. Das ist möglicherweise deine Gelegenheit für eine Rehabilitierung.« Tan deutete auf Zhongs Akte. »Du könntest einen Freund gut gebrauchen.«
    »Muß wohl ein Meteorit gewesen sein«, murmelte Shan.
    »Hervorragend! Genau das meine ich. Wenn man mit diesem Ansatz an die Sache herangeht, können wir das Ganze in ein oder zwei Tagen zum Abschluß bringen. Wir werden uns eine geeignete Belohnung überlegen. Etwa zusätzliche Rationen oder leichte Tätigkeiten, zum Beispiel die Versetzung in eine Reparaturwerkstatt.«
    »Ich will nicht«, sagte Shan mit völlig ruhiger Stimme. »Ich meine, ich kann nicht.«
    Tan wirkte belustigt. »Aus welchem Grund weigerst du dich, Genosse Häftling?«
    Shan antwortete nicht. Aus dem Grund, daß ich nicht für Sie lügen kann, wollte er sagen. Aus dem Grund, daß dank Leuten wie Ihnen meine Seele nur noch aus ein paar dünnen Fasern besteht. Aus dem Grund, daß ich zur Belohnung für meine Arbeit ins Gulag geschickt wurde, als ich das letzte Mal versucht habe, für jemanden wie Sie die Wahrheit herauszufinden.
    »Vielleicht hat meine Gastfreundschaft dich verwirrt. Ich bin Oberst der Volksbefreiungsarmee. Ich bin Parteimitglied der siebzehnten Stufe. Dieser Bezirk ist mir unterstellt. Ich bin für die Ausbildung der Bevölkerung verantwortlich, für die Ernährung der Hungrigen, für die Errichtung öffentlicher Bauten, für die Beseitigung des Abfalls, für die Verwahrung der Sträflinge, für die Beaufsichtigung der kulturellen Aktivitäten, für den reibungslosen Busverkehr, für die Lagerung der Nahrungsmittel der Gemeinde. Und für die Schädlingsbekämpfung. In jeglicher Hinsicht. Verstehst du mich?«
    »Das ist unmöglich.«
    Tan trank langsam seinen Tee aus und zuckte die Achseln. »Dennoch wird es dir nicht gestattet, den Auftrag abzulehnen.«

Kapitel 2
    Shan saß schweigend in dem kalten, düsteren Raum, den man ihm bei der 404ten im Gebäude der Gefängnisverwaltung zugewiesen hatte, und starrte auf das Telefon. Im ersten Moment hielt er es nicht für echt. Er stieß mit einem Bleistift dagegen und rechnete schon damit, daß es sich als hölzerne Attrappe erweisen würde. Dann schob er es hin und her, aber das Kabel fiel nicht ab. Der Apparat war ein Gegenstand aus der Vergangenheit, aus einer anderen Welt, so wie Radios und Fernsehgeräte, Taxis und Toiletten mit Wasserspülung. Artefakte aus einem Leben, das hinter ihm lag.
    Er stand auf und ging um den Tisch herum. Das Zimmer war ein Lagerraum ohne Fenster, in dem sich normalerweise kleine Gruppen zu ihren Agitationsveranstaltungen trafen, den tamzing-Sitzungen, in denen die antisozialistischen Anwandlungen diagnostiziert und behandelt wurden. In einer der Ecken waren Reinigungsmittel gestapelt und verströmten einen durchdringenden Ammoniakgeruch. Neben dem Telefon lagen ein kleiner Notizblock und drei von Bißspuren übersäte
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