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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter
Autoren: Eliot Pattison
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Bleistiftstummel. Auf einem Stuhl neben der Tür saß Feng und schälte einen Apfel. Sein blasierter Gesichtsausdruck trug kaum dazu bei, Shans Verdacht zu zerstreuen, daß man ihn in eine kunstvolle Falle gelockt hatte.
    Shan kehrte zum Tisch zurück und nahm den Hörer des Telefons ab. Es gab tatsächlich ein Freizeichen. Er legte wieder auf und ließ die Hand auf dem Hörer ruhen, als müßte er ihn festhalten. Für wen war diese Falle errichtet worden? Für Shan? Da weder Peking noch Shan nach so langer Zeit verraten wollten, was genau sein Verbrechen gewesen war, hatte man womöglich beschlossen, einen Fall zu konstruieren, den man besser verstehen konnte. Oder galt die Falle Choje und den Mönchen? Wen sollte er schon anrufen? Minister Qin? Seine Frau, die Parteifunktionärin, die ihre Ehe hatte annullieren lassen? Den Sohn, dessen Gesicht er nicht erkennen würde, selbst wenn er ihm je wieder leibhaftig gegenüberstände?
    Er hob erneut ab und wählte fünf zufällige Ziffern.
    »Wei«, erklang die teilnahmslose Stimme einer Frau mit der allgegenwärtigen, bedeutungslosen Silbe, mit der jedermann sich am Telefon meldete. Shan legte auf und starrte den Apparat an. Er schraubte die Sprechmuschel ab und fand, wie erwartet, ein Abhörmikrofon, die Standardausführung der Öffentlichen Sicherheit. Auch er hatte in seinem früheren Dasein solche Geräte benutzt. Es konnte speziell zu seiner Überwachung oder generell in alle Gefängnistelefone eingebaut worden sein.
    Er schraubte die Sprechmuschel wieder fest und schaute sich noch einmal im Raum um. Jeder Gegenstand schien eine zusätzliche Dimension zu besitzen, eine gesteigerte Wirklichkeit, als würde er durch die Augen eines Sterbenden wahrgenommen. Shan musterte den Schreibblock und wunderte sich über das saubere, helle Papier. Eine solche Helligkeit gehörte sonst nicht zu dem Universum, das er drei Jahre zuvor betreten hatte. Auf dem ersten Blatt standen einige Namen und Nummern, die anderen waren leer. Mit leichtem Zittern schlug er die blanken Seiten um und hielt bei jeder kurz inne, als würde er in einem Buch lesen. Auf dem letzten Blatt fügte er in einer der oberen Ecken, wo es hoffentlich niemand bemerken würde, mit zwei schwungvollen Strichen das Ideogramm seines Namens ein. Dies war das erste Mal, daß er seit seiner Verhaftung etwas geschrieben hatte. Ein ungewohntes Gefühl der Zufriedenheit machte sich in ihm breit. Er war noch am Leben.
    Unter den ersten Eintrag schrieb er die Ideogramme des Namens seines Vaters, dann überkam ihn ein plötzliches Schuldgefühl, und er klappte den Block zu. Mißtrauisch warf er einen kurzen Blick auf Feng, um herauszufinden, ob der ihn beobachtet hatte.
    Von irgendwoher war ein leises Stöhnen zu vernehmen. Es hätte der Wind sein können. Vielleicht aber auch jemand im Stall. Shan schob den Block beiseite und stellte fest, daß darunter ein gefaltetes Blatt Papier lag. Es war ein Formular, dessen Überschrift UNFALLBERICHT lautete.
    Shan nahm den Hörer ab und wählte die Nummer, die hinter dem ersten Namen auf der Liste stand. Es handelte sich um die örtliche Klinik, das Bezirkskrankenhaus.
    »Wei.«
    »Dr. Sung«, las er ab.
    »Hat dienstfrei.« Die Verbindung wurde unterbrochen.
    Auf einmal bemerkte Shan, daß jemand vor seinem Schreibtisch stand. Der Mann war ein Tibeter, wenngleich ungewöhnlich groß. Er war jung und trug die grüne Uniform des Lagerpersonals.
    »Man hat mich Ihnen zugewiesen, damit ich Ihnen bei der Erstellung Ihres Berichts behilflich bin«, sagte der Mann unbeholfen und schaute sich im Zimmer um. »Wo ist der Computer?«
    Shan ließ den Hörer sinken. »Sie sind ein Soldat?« Es gab in der Tat Tibeter in der Volksbefreiungsarmee, aber die wurden nur selten in Tibet stationiert.
    »Ich bin kein...«, setzte der Mann aufgebracht an und fing sich sofort wieder. Shan kannte diese Reaktion. Der Mann wußte nicht, wer Shan war, und konnte daher nicht entscheiden, wie dieser Unbekannte in der Hierarchie des Gefängnislebens oder in der sogar noch komplexeren Rangfolge der klassenlosen Gesellschaft Chinas einzuordnen war. »Ich habe soeben eine zwei Jahre währende Umerziehung abgeschlossen«, erwiderte er förmlich. »Direktor Zhong war so freundlich, mir bei meiner Entlassung Kleidung zur Verfügung zu stellen.«
    »Weswegen die Umerziehung?« fragte Shan.
    »Ich heiße Yeshe.«
    »Aber Sie sind noch immer im Lager.«
    »Es gibt kaum Arbeit. Man hat mich gebeten, noch zu bleiben Meine
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