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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut
Autoren: Christoph Hein
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saß ich unschlüssig im Wagen, gedankenlos. Dann nahm ich die Blumen, den Mantel legte ich über die Schulter.
    Schon am Friedhofstor sah ich die Leute. Sie standen vor der Kapelle und warteten. Es waren zwei Gruppen. Wahrscheinlich hatte sich das Beerdigungsinstitut verspätet, und jede Gruppe wartete auf Aufruf und Abfertigung. Augenblicklich wurde mir bewußt, daß ich keinen der Angehörigen Henrys kannte. Zu welcher Gruppe gehörte ich? Bei meiner Abneigung gegenüber Beerdigungen wäre es sehr komisch, an der Totenfeier für eine wildfremde Leiche teilzunehmen. Aber ich wußte nicht, wen ich fragen sollte. Ich wußte nicht einmal, wie ich fragen sollte. Verzeihung, zu welcher Leiche gehören Sie?
    Ich hoffte, Henrys Kollegen zu entdecken, ein bekanntes Gesicht als Pfand meiner berechtigten Anwesenheit. Er war nicht zu sehen. Da ich stehengeblieben war, starrten alle zu mir herüber. Das unbehagliche Warten auf Feierlichkeit, die verlegenen, gedämpft geführten Gespräche über den Toten, die Zukunft, das Schicksal, das unbeständige Wetter. Die Möglichkeiten von Konversation sind eingeschränkt, die Unterhaltung wird bereitwillig beim Erscheinen einer neuen Person unterbrochen. Ein erlösender Auftritt, nun kann man schweigend mustern.
    Ich holte die Zigaretten aus der Tasche, steckte sie jedoch sofort wieder ein. Asche zu Asche, aber Rauchen ist sicherlich unerwünscht.
    Man starrte noch immer zu mir herüber. Offenbar bewegteuns die gleiche Frage: Zu wem, zu welcher Leiche gehöre ich. Sollte ich jetzt grüßen. Wen. Ich ging in das Blumengeschäft, das hinter dem Torbogen lag. Eine Türglocke bimmelte. Der Raum ein feuchtes, gefliestes Rund, Grünpflanzen und weiße Schleifen. Perlenschnüre trennten den Laden von den hinteren Räumen. Durch das Schaufenster sah ich die wartenden Gruppen vor der Kapelle. Die Verkäuferin kam, eine hagere, schwarzgekleidete Frau mit tiefen Falten um den Mund. Eine Notwendigkeit des Geschäfts, die Nähe des Todes.
    Sie wünschen?
    Sie schaute auf meinen Nelkenstrauß.
    Können Sie mir sagen, welche Trauerfeier jetzt stattfindet?
    Fragen Sie den Küster.
    Ihre Stimme war müde. Sie wußte nun, was sie zuvor ahnte, ich würde nichts kaufen.
    Wo kann ich den Küster finden?
    Irgendwo da.
    Sie zeigte in die Richtung des Friedhofs. Dann ging sie zurück und beobachtete mich, im Perlenvorhang stehend, bis ich den Laden verließ.
    Draußen betrachtete ich die Auslagen und überlegte, was ich tun sollte. Vielleicht war ich auf dem falschen Friedhof, vielleicht wurde Henry inzwischen ganz woanders beerdigt. In der Schaufensterscheibe sah ich, daß sich die Kapellentür öffnete. Ich drehte mich um. Ein Mann kam heraus, er war klein und hatte einen gekrümmten Hals. Er sagte etwas, aber ich verstand es nicht. Eine Gruppe setzte sich in Bewegung und verharrte wenige Schritte vor der Kapelle. Ich ging zu ihnen. Als ich den kleinen Mann ansprechen wollte, fragte er mich, ob ich zur »Feierlichkeit Henry Sommer« gehöre. Ich nickte. Er sagte, sie würde in wenigen Minuten beginnen.
    Ich stand inmitten einer Gruppe von etwa zwanzig Leuten,die mich nun direkter als zuvor musterten. Ich zog meinen Mantel zurecht und betrachtete abwechselnd meine Blumen und die Schuhspitzen.
    Als die beiden Flügel der Kapelle geöffnet wurden, mußten wir zur Seite treten. Vier Männer brachten einen Sarg, hinter dem drei Jugendliche, keiner älter als zwanzig, mit langen, verwilderten Haaren hergingen. Ich betrachtete sie. Einer der jungen Männer bemerkte meinen Blick. Er hob seinen Kopf, sah mir einen Moment in die Augen und grinste mich an. Ich drehte mich weg. Die Flügeltüren gingen zu, um sich gleich danach wieder zu öffnen. Das schwierige Zeremoniell des Todes. Der kleine, verkrümmte Mann wies uns mit einer Handbewegung hinein. Ich ging den anderen hinterher. Vor dem Altar stand der Sarg. Der verkrümmte Mann nahm die Kränze und Blumen ab und legte sie um das Podest. Ein Arrangement, er wog ab, sortierte. Die Kränze zentral, zwei bedruckte Schleifen werden sorgfältig geglättet. Meine Nelken verschwanden irgendwo.
    In der ersten Bank saß eine Frau mit zwei Kindern. Sie war Mitte Dreißig. Ich bemerkte, daß sie mich beobachtete, und ging rasch zu einer der hinteren Bänke. Über einen Lautsprecher kam ein leises Knacken, dann hörte man das Rauschen der Schallplattenrille, ein regelmäßig wiederkehrendes Auf- und Abschwellen, ein Flirren der Luft. Dann setzte Orgelmusik ein. Eine Fuge,
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