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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut
Autoren: Christoph Hein
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ihn erst zwei oder drei Monate und hatte ihn für den doppelten Taxwert gekauft. Die Polizei hat ihm erklärt, daß es aussichtslos sei, den Wagen wiederzufinden, und ihn an die Versicherung verwiesen. Und die Versicherung will ihm nur einen Teil des Taxwertes ersetzen. Seit drei Wochen redet er über nichts anderes, und diemeisten Kollegen können sich darüber gleichfalls ereifern. Ich glaube, wenn er den Autodieb erwischen könnte, er würde ihn erschlagen. Der hippokratische Eid hat eben seine Grenzen. Wie alles.
    Nach dem Essen ging ich mit Anne einen Kaffee trinken. Anne ist drei Jahre älter als ich. Sie war Zahnärztin und mußte den Beruf vor einigen Jahren aufgeben. Ihre Handgelenke neigen zur Entzündung. Sie studierte nochmals und macht nun Anästhesie. Sie hat vier Kinder und einen Mann, der sie alle zwei Wochen einmal vergewaltigt. Sie schlafen sonst regelmäßig und gut miteinander, wie sie sagt, aber ab und zu vergewaltigt er sie. Er brauche das, sagt sie. Scheiden will sie sich nicht lassen, wegen der Kinder und aus Angst, allein zu bleiben. So nimmt sie es halt hin. Wenn sie Alkohol trinkt, heult sie und beschimpft ihren Mann. Aber sie bleibt bei ihm. Ich halte Distanz zu ihr. Es ist anstrengend, mit einer Frau befreundet zu sein, die sich mit ihren Demütigungen abgefunden hat. Ihr Mann, ebenfalls Arzt, ist vierzehn Jahre älter als sie. Nun wartet sie darauf, daß es sich »bei ihm legt«. Senilität als Hoffnung. Es gibt unsinnigere Erwartungen.
    Im Café ist Anne ganz Dame. Frau Doktor trinkt ihren Kaffee. Der übliche Flirt mit dem Besitzer. Wenn er ihr die Hand auf die Schulter legen würde, bekäme sie vermutlich Schüttelfrost. Sie präsentierte ihr neues Kostüm, schwarz mit einem lila Schal. Ihr Mann hat es ihr gestern gekauft. Sie erzählte mir, daß es furchtbar teuer war, ihr Mann es aber anstandslos bezahlt habe. Das Geschenk danach. Arme Anne. Vielleicht sollte ich mir das Kostüm ausborgen. Es wäre geeigneter für den Friedhof als der dicke Mantel. Andrerseits, was habe ich mit ihren Vergewaltigungen zu schaffen. Sie hats weiß Gott verdient, daß sies allein trägt.
    Sie sprach über eine Dichterlesung in einer Kirche, wo sie in der vorigen Woche war. Wie sie erzählte, hatte mandort heikle Fragen gestellt, und der Dichter habe alles diplomatisch und lustig umgangen. Ich bemühte mich, nicht auf ihren Kuchenteller zu starren. Sie aß bereits das dritte Stück. Wenn ich einen Ton darüber verlieren würde, stünden ihr die Augen sofort voll Tränen. Ich kenn das und vermeid es. Ihr ist nicht zu helfen. Soll sie Kuchen fressen, ihre Figur verträgts.
    Wir bestellten noch einen Kognak. Dann verabschiedete ich mich. In der Klinik holte ich meinen Mantel. Karla telefonierte mit einem Patienten und machte mir aufgeregt Zeichen, ich solle warten. Ich signalisierte ihr, daß ich es eilig hätte, und verschwand.
    Um die Mittagszeit sind die Straßen leer. Ich konnte schnell fahren. Unterwegs hielt ich an einem Blumenladen und kaufte neun weiße Nelken. Je näher ich dem Friedhof kam, desto beklommener wurde mir. Mir fiel ein, daß ich den ganzen Tag über nicht an Henry gedacht hatte. Trotzdem konnte ich auch jetzt nur das eine denken: daß ich mich seiner erinnern sollte. Ich konnte noch umkehren und nach Hause fahren, meinen Fotoapparat schnappen und irgendwo fotografieren. Ich hatte einen freien Nachmittag, und Henry erwartete sicher nicht, daß ich ihm »das letzte Geleit« gebe. Beerdigungen und Krankenbesuche bei Bekannten waren für ihn so etwas wie fremde Ehestreitigkeiten, die man mit anhören mußte. Sie sind unangenehm und machen passiv. Vertane Zeit. Atavistische Totenkulte. Ein uneingestandenes Spiel mit einer noch immer nicht aufgegebenen Ewigkeit. Oder ein höhnisches Triumphieren: Wer trägt wen zu Grabe. Schließlich, es gibt Beerdigungsinstitute, die es professionell erledigen, optimal. Wozu die persönliche Anwesenheit. Zusammengehörigkeit mit einer Leiche? Woher rührt das Interesse, beim Verbuddeln, Verbrennen dabeisein zu wollen. Zu müssen. Der, den man liebte, ist es nicht. Ich hatte gehofft, Henry würde in Dresden beerdigt werden. Dresden istweit, die Entscheidung, nicht hinzugehen, wäre mir leichtgefallen.
    Der Motor begann zu klopfen. Ich schaltete in den Leerlauf und drückte zweimal das Gaspedal durch. Nicht vergessen, danach tanken zu fahren.
    Ich stellte den Wagen in einer Nebenstraße ab, obwohl vor dem Friedhof genügend Parkfläche war. Ein paar Sekunden
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