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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut
Autoren: Christoph Hein
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eingefallenen, faltigen Höhlen. Ich sprach sie an, fragte, ob ich ihr helfen könne. Frau Rupprecht blickte flüchtig zu mir, nahm mich aber nicht wahr. Ihre Hand streichelte die Schläfe, als wollte sie ein panisches Entsetzen einschläfern, eine unnennbare, unbestimmte Angst. Dann beruhigte sie sich, lächelte und grüßte, um wieder den Gang zurückzueilen und hinter ihrer Wohnungstür zu verschwinden.
    Dann kam Frau Luban, die die Wohnung neben dem Müllschlucker hat. Ich wartete noch immer auf den Fahrstuhl. Frau Luban ist gehbehindert und läuft den ganzen Tag durchs Haus. Sie hat in jedem Stockwerk Bekannte, mit denen sie Kaffee trinkt.
    Sie stellte sich neben mich und klagte über den Hausmeister, der überhaupt nichts tun würde. Auch sei er unverschämt und gebe freche Antworten. Dann fragte sie, weshalb ich sie nicht besuche. Sie weiß, daß ich Ärztin bin. Die gesamte Etage weiß, daß ich Ärztin bin, und alle erwarten,daß ich bei ihnen Hausbesuche mache. Sogar um Tabletten kommen sie zu mir.
    Ich sagte ihr, daß ich wenig Zeit habe, und sie bedauerte mich. Sie nannte mich jetzt »Kindchen«, was mich verwunderte. Dann sagte sie, daß sie mir etwas anvertrauen müsse. Ich starrte auf das Glasfenster und hoffte, daß der Fahrstuhl käme. Sie erzählte, daß sie dem Hauskomitee angehöre und daß die Polizei zu ihnen gekommen sei. Ein Herr in Uniform habe die Mietervertretung gebeten, wachsam zu sein. Sie sollten alles Verdächtige melden, ungewöhnliche Besucher, häufige Feierlichkeiten, jede Unregelmäßigkeit. Frau Lubans Augen verschwammen hinter den Brillengläsern. Die Polizei habe ihre Erfahrungen, sagte sie. Sie machte eine Pause und wartete darauf, daß ich etwas sagte. Man hörte irgendwo den Fahrstuhl fahren und anhalten. Ich drückte mehrmals auf den Knopf neben dem Schacht und überlegte, ob ich nicht zur Treppe gehen sollte.
    Die alte Frau kam dicht an mich heran und fragte, ob mir der Mieter aus dem Appartement sieben nicht aufgefallen sei. Es sei ein merkwürdiger Mensch. Ich schüttelte den Kopf und sagte, daß ich anderen Leuten nicht nachspioniere.
    Davon ist überhaupt keine Rede, erwiderte sie gekränkt. Sie stand so dicht neben mir, daß ich ihren rosa Wangenpuder roch. Ein Gemisch aus Schamhaftigkeit und Armut. Und ich stellte mir vor, wie ich in dreißig Jahren mit gepuderten Wangen durch die Korridore dieses Hauses lief, begierig die Geräusche aus fremden Wohnungen aufsaugte und jede überstandene Nacht als einen Sieg feierte.
    Frau Luban berührte meinen Arm. Sie hielt den Kopf gesenkt, als sie flüsterte: Sehen Sie.
    Ich drehte mich um. Den Korridor entlang kam ein Mann mit einem Filzhut auf uns zu. Das ist er, zischelte Frau Luban und wandte sich ab.
    Der Mann stieß mit dem Fuß die Glastür auf und stelltesich neben uns vor den Fahrstuhl. Er betrachtete mich eingehend. Ich starrte ihn ebenso schweigend an. Sein Gesicht war unregelmäßig, als wäre es aus zwei verschiedenen Hälften zusammengesetzt. Der Filzhut wirkte lächerlich. Vielleicht aber war es nur die herausfordernde Art, wie er ihn trug.
    Der Fahrstuhl kam, und wir stiegen ein. Ich stand an der Fahrstuhltür. Die alte Frau drängte sich dicht neben mich, was mir unangenehm war. Ich schob meine Tasche zwischen uns. Der Mann stand hinter mir. Plötzlich ertönte ein Jaulen. Ein kurzer, aufheulender Schrei, als habe man einen Hund getreten. Frau Luban griff fest nach meinem Arm. Ich schüttelte sie ab, während ich mich umdrehte. Der Mann mit dem Filzhut stand an die Rückwand gelehnt und betrachtete gelangweilt die elektrische Anzeige der Stockwerke. Wir lächelten uns an. Als wir unten ankamen, sagte er sehr freundlich guten Tag zu mir und hielt die Tür auf.
    Am Abend erschien Henry bei mir. Ich lag im Bett, als es klingelte. Im Bademantel öffnete ich. Er stand mit einem qualmenden, stinkenden Topf vor der Tür und fragte, ob ich ihm helfen könne. Ich sagte, es sei spät, und ich hätte bereits im Bett gelegen. Er erwiderte, er habe noch nichts gegessen, und das hier, und dabei deutete er auf den Topf, sei ungenießbar. Dann ging er an mir vorbei ins Zimmer. Er setzte sich in einen Sessel und sah die Fotos an, die an den Wänden hingen. Ich blieb an der Tür stehen und sagte ihm, daß ich müde sei, daß ich schlafen müsse. Er meinte, er würde nicht lange bleiben, er wolle nur etwas essen, dann würde er gehen. Ich ging in die Küche. Er blieb im Sessel sitzen und redete weiter mit mir.
    Später setzte er
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