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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut
Autoren: Christoph Hein
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weiter. Hinter der Tasse lag die aufgeschlagene Zeitung. Ich las die Annoncen.
    Ich lese ausschließlich die Annoncen in der Zeitung. Ein öffentlich erlaubtes und erwünschtes Entblößen. Verhaltene Zurschaustellung. Verschlüsselte Mitteilungen über ein Schicksal, zur Chiffre geronnen. Der entlaufene Hund, der auf den Namen Trixi hört und niemals beißt, das zum Verkauf angebotene neue Schlafzimmer mit Garantie, die guten Lebenskameraden, die sich anbieten oder gesucht werden mit ihren auswechselbaren Selbstdarstellungen: Interesse für gute Bücher, Theater, Reisen, gewissenhaft, mit Weltanschauung, mit Humor, Nichtraucher. Oder der in Amtssprache sich formulierende Schmerz, unfaßbar, unsäglich, erschüttert, nach einem tragischen Geschehen. Die konventionellen Floskeln der Anzeigenannahmen, eine Lebenshilfe für die Unbeholfenheit sprachlos Gewordener. Der Hintergrund erhellt sich gelegentlich in der Klinik. Irgendein benachbartes Krankenhaus stellte Betten, OP, einen Totenschein. Die Kollegen sind bestens informiert und begierig mitzuteilen.
    Und das Annoncenspiel der Käufer und Verkäufer. Die Spekulanten mit der Rarität, Bauernfänger, Ganoven. Hoffnung auf ein vergegenständlichtes Glück oder einfach nötigende Umstände, Not. Ein Kompendium der Stadt, ein Gesellschaftsroman mit allen traditionellen Zutaten. Dieimmer gleiche Mitteilung über den Wechsel der Generationen.
    Plötzlich war eine Frauenstimme in meinem Zimmer, die nach jemandem rief. Ich hatte die Balkontür offengelassen. Auf dem Nachbarbalkon stand Frau Rupprecht und streute Vogelfutter aus. Die alte Frau hatte sich eine schwarze Wollstola umgelegt. Ihre Hand war über das Gitter gestreckt, der Kopf wackelte langsam von einer Seite zur anderen. Sie stieß immer wieder ihre Lockrufe aus, aber hierher kommen keine Vögel. Der Wind wird die Krümel wegfegen. Frau Rupprecht klingelt gelegentlich an meiner Tür, um sich ein Medikament zu holen. Sie ist nicht weiter aufdringlich.
    Ich räumte das Geschirr weg und wusch ab. Dann setzte ich mich und rauchte. Aufzuräumen war nichts. In einer so kleinen Wohnung gibt es wenig zu tun.
    Eine halbe Stunde später ging ich zum Dienst.

3
    In den folgenden drei Tagen sah ich Henry nicht. Ich hatte Nachtbereitschaft, so daß ich zweiunddreißig Stunden nicht aus den Sachen kam. Während der Bereitschaft war es ruhig geblieben. In der Rettungsstelle die üblichen Fälle von Trunkenheit, Blinddarmreizungen, Magenbeschwerden und Bluthochdruck. Auf den Stationen intravenöse Spritzen, erhöhte Blutzuckerspiegel, zwei Transfusionen, einmal Luftnot. Bis Mitternacht kamen Kollegen auf eine Tasse Kaffee zu mir. Dann brachte die Polizei Personen zur Blutentnahme. Ich hatte den Alkoholdienst und mußte zwei Gewahrsamsbescheinigungen für die Polizei ausstellen. Später meldeten sich noch ein paar Patienten: eine Erstschwangere, die irgendwelche Unregelmäßigkeiten festgestellt haben wollte, eine Kolik, eine Frau mit Herzbeschwerden, begleitet von einem ältlichen, aufgeregten Mann.
    Gegen sechs Uhr wird es im Haus wieder laut. Ich habe dann noch Zeit für ein ausführliches Frühstück mit den Kollegen und Nachtschwestern, bis um acht Uhr meine Sprechstunde beginnt.
    Die Sprechstunden nach einer Bereitschaft sind mir nicht unangenehm: Ich nehme alles wie durch einen wollenen Vorhang auf. Die Geräusche dringen kaum zu mir vor, sie werden abgeschwächt und fallen wallend zu Boden. Ich bin dann allen gegenüber milde gestimmt. Die Patienten wirken verständnisvoll, vielleicht hat Karla sie auf meinen Doppeldienst hingewiesen. Unangenehm ist es nur während der Regel, das Rückgrat schmerzt dann heftiger.
    Am Freitag sah ich Henry wieder. Ich traf ihn im Hausflur bei den Briefkästen. Ich kam vom Friseur und sah unmöglich aus. Wenn er nicht aufgeblickt hätte, wäre ich an ihm vorbei und nach oben gegangen, um mir die Frisurauszukämmen. Er nahm meine Hand und küßte sie. Dann sagte er, daß er auf mich gewartet habe, daß er froh sei, mich zu sehen. Wir fuhren nach oben. Vor meiner Tür verabredeten wir uns für den Abend. Wir wollten irgendwo essen.
    Zwei Stunden später klingelte er. Wir fuhren mit seinem Wagen durch die Stadt. Er fuhr gut, aber sehr schnell. Ich sagte es ihm, und er fragte mich, ob ich Angst habe und er langsamer fahren solle. Ich sagte ihm, daß ich keine Angst hätte. Den Trouble mit der Polizei würde schließlich er bekommen, nicht ich. Er lachte und beschleunigte das Tempo. Ich mußte
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