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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf
Autoren: John Katzenbach
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weg!, dachte sie. Versuch zu fliehen! Doch sie konnte es nicht. Ich weiß, dass ich es kann, beschwor sie sich in Gedanken. Sie biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. Sie senkte den Blick und sah, dass sich ihre Knöchel über dem Stift weiß verfärbten. Sie stieß ihn in die andere Hand. Eine Woge der Qual spülte über sie hinweg. Noch bist du am Leben!, schrie sie sich an. Es tut weh, und du lebst. Sie warf einen Blick zu jedem der Brüder, und langsam sagte sie in Gedanken: Ich heiße Anne Hampton. Anne mit einem E am Ende. Ich bin zwanzig Jahre alt und besuche die Florida State University. Ich habe meinen ersten Wohnsitz in Colorado und studiere Anglistik im Hauptfach, weil ich Bücher liebe. Ich bin ich.
    Sie wiederholte das ein ums andere Mal.
    Ich bin ich. Du bist du. Wir sind wir. Ich bin ich.
    Martin Jeffers betrachtete seinen Bruder und merkte, wie in ihm bei dem Gedanken an das, was er möglicherweise gleich tun würde, die blanke Angst aufstieg, und bei dem Gedanken an das, was aus ihm geworden war, die blanke Verzweiflung.
    »Doug, wieso bist du so geworden? Und wieso ich nicht?«
    Douglas Jeffers zuckte die Achseln.
    »Woher soll ich das wissen? Vielleicht war es der Altersunterschied.Ein paar Monate können bedeuten, dass man die Dinge anders sieht. Es ist, als wenn du zehn Leute auffordern würdest, dieselben Ereignisse wiederzugeben, die sie alle miterlebt haben. Jeder wartet mit einer leicht verzerrten Fassung auf. Wieso sollte das bei Brüdern anders sein?« Er lachte. »Ich bin eben eine leicht verzerrte Fassung.«
    »Das tut mir leid«, sagte Martin Jeffers.
    »Du kannst mich mal, kleiner Bruder«, entgegnete Douglas Jeffers. »Meinst du denn, ich wollte nicht so sein, wie ich bin?«
    Er drehte sich um und blickte seinen Bruder an.
    »Ich gehöre zu den Größten aller Zeiten.« Er deutete auf Anne Hampton. »Sie kann es dir bestätigen.«
    Douglas Jeffers wandte sich wieder seinem Bruder zu.
    »Dich wird man vergessen. Mich? Niemals.«
    In Douglas Jeffers tobte es. Sein Bruder sollte nicht sehen, dass er hin und her gerissen war, und deshalb kaschierte er den inneren Widerstreit mit den gemeinsten Worten, die er sich denken konnte.
    Es ist alles verdorben, dachte er, dabei lief bis zu dem Moment, als er vor der Tür stand, alles so gut. Er sollte es erst erfahren, nachdem ich verschwunden wäre! Verdammt! Diese verdammte Polizistin! Er kehrte seinem Bruder den Rücken, damit der Jüngere nicht die Unsicherheit in seinen Augen sah.
    Ihn bestürmten plötzlich Hunderte von Bildern aus ihrer Kindheit. Er dachte an die Nacht in New Hampshire. Er dachte an all die Nächte, in denen er zu seinem Bruder ins Bett gekrochen war, um den weinenden Jungen so gut wie möglich zu trösten. Ob er es noch weiß?, fragte sich Douglas Jeffers. Erinnert er sich an all die Wiegenlieder und Gutenachtgeschichten und daran, wie ich ihn in den Schlaf geschaukelthabe? Weiß er nicht, dass ich ihn im Sand festgehalten habe, damit er nicht ins Wasser läuft und stirbt? Der Mann hätte uns beide umgebracht, wenn es nach ihm gegangen wäre. Aber ich habe ihn beschützt. Ich habe ihn immer beschützt. Selbst wenn ich ihn aufgezogen oder mich lustig gemacht habe. Auch dann noch, als ich wusste, was für ein Mensch aus mir wird. Ich hab mich immer um ihn gekümmert, weil er immer der gute Teil von mir gewesen ist. Er musste innerlich lachen: Da irren die Gelehrten, dachte er. Selbst Psychopathen haben noch ein paar Gefühle übrig, wenn man nur tief genug gräbt.
    Sein nächster Gedanke war: Oder auch nicht.
    Er legte für einen Moment das Leben seines Bruders und sein eigenes auf eine innere Waage.
    Einer von uns fängt heute Nacht neu an.
    Einer von uns stirbt.
    Eine andere Möglichkeit sah er nicht.
    Er starrte wieder hinaus über den dunklen Teich.
    »Weißt du, immer wenn wir im Sommer hier draußen waren, hab ich es geliebt«, erzählte er. »Es war immer so verdammt wild und schön.«
    Er sah plötzlich etwas Weißes aufblitzen und einen Schwarm Schwäne über die Wasserfläche huschen.
    »Ist dir das auch aufgefallen?«, fragte er. »Alles ist wie damals. Sogar die Schwanenfamilie auf dem Teich.«
    »Nichts ist so wie damals«, widersprach Martin Jeffers.
    Doch sein Bruder hörte ihn nicht, da seine Aufmerksamkeit plötzlich von etwas anderem in Anspruch genommen war.
    Es fühlte sich an, als hätte ihm jemand einen glühend heißen Pflock durch den Leib gejagt.
    Douglas Jeffers erstarrte, als
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