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Der Fluss

Der Fluss

Titel: Der Fluss
Autoren: Gary Paulsen
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Höhe gewonnen hatte und die Landschaft unter ihnen immer kleiner wurde.
    Derek schwieg. Er starrte durch die seitliche Fenster scheibe, und plötzlich machte sich Brian klar, dass er die sen Mann zum ersten Mal, seit er ihn kannte, schweigend erlebte. Immer wieder hatte er bisher Brian in Gespräche verwickelt, hatte endlose Fragen gestellt. Auch hatte er alle Berichte über Brians »Abenteuer«, wie er sagte, gele sen; er hatte Video-Bänder von allen Fernsehnachrich ten über die Suchaktion; und es schien, als kenne er Bri ans ganze Geschichte auswendig.
    »Als du diese Bauchweh-Kirschen essen musstest«, fragte er zum Beispiel, »wie lange dauerte es, bis dir übel wurde?«
    Oder: »Hast du Veränderungen in der Funktion dei ner Verdauung bemerkt?«
    »Ach, gehen Sie«, hatte Brian gelacht.
    »Nein, tatsächlich. All diese Dinge sind wichtig. Sie könnten dazu beitragen, Menschenleben zu retten.« Und sein Gesicht blieb ernst. »Das ist wirklich sehr, sehr wich tig.«
    Da hatte Brian gemerkt, dass Derek es ernst und auf richtig meinte. Bis zu diesem Moment, als sie mit all den Landkarten auf dem Tisch bei ihm zu Hause im Wohn zimmer saßen – bis zu diesem Moment war Brian sich gar nicht so sicher gewesen, ob er wirklich mitmachen wollte. Er hatte ja gesagt und dachte, er würde es tun, aber so völlig sicher war er sich nicht. Bis er Derek in die Augen schaute und erkannte, dass dieser Mann wirklich anderen Menschen helfen wollte, indem er lernte, was Brian wusste.
    Nun saßen sie also in einem Buschflieger, unterwegs nach Norden. Und irgendwie schien das ganz logisch, völlig in Ordnung, als wäre die Rückkehr in die Wildnis das Allernormalste der Welt.
    Er sah aus dem Fenster, hinunter, am rechten Schwim mer vorbei. Sie waren erst eine halbe Stunde in der Luft, und schon ging der Flug über dichte Wälder. Hie und da lagen noch Farmen und Felder verstreut, aber sie wurden immer weniger. Und wenn er über die Motorhaube des Flugzeugs spähte, durch den wirbelnden Kreis des Pro pellers, sah er den endlosen Wald, hingestreckt bis zum Horizont.
    Jetzt, da die Angst verschwunden oder doch unter Kontrolle war, fühlte er sich beinah magisch von diesem Wald angezogen. Auch dies war eine Überraschung für ihn.
    Sein Denken hatte sich verändert in jener Zeit, drau ßen am See. Das musste es auch, sonst wäre er gestorben. Er hatte sich ändern müssen, selbst ein Teil der Wildnis werden müssen, ein Tier. Aber nach seiner Rückkehr hatte er angefangen sich wieder »anzupassen«, wie er es nannte. Er gewöhnte sich wieder an das Leben in der Stadt. Als er zum ersten Mal in die Fußgängerzone mit ihren Kaufhäusern ging, schwindelte ihm vor all dem Lärm und dem Durcheinander. Um wieder ein »norma ler Mensch« zu werden, wie er dachte, ging er immer wie der dorthin, bis es ihm endlich nichts mehr ausmachte.
    Und die Erinnerung an die Wildnis verblasste. Selte ner kamen die Träume, und am Tag dachte er nicht mehr so oft daran. Nein, er hatte die Wildnis nicht vergessen – er wusste, er würde sie nie vergessen. Aber er dachte nicht mehr so oft daran. Und wenn er daran dachte, ge schah es ohne Freude.
    Er erinnerte sich an die harten Sachen.
    An die Moskitos zum Beispiel, die ihn in dichten Wol ken überfallen hatten, diese schreckliche, krabbelnde, dichte Masse winziger Quälgeister, die nach seinem Blut lechzte.
    »Wie war es denn?«, hatte seine Mutter ihn eines Tages gefragt, als sie am Küchentisch saßen. »Was war das Hauptproblem? Der schlimmste Teil der Erfahrung?«
    Da waren ihm zuerst die Moskitos eingefallen und er wollte schon anfangen, ihr davon zu erzählen. Aber er sagte dann: »Der Hunger.«
    »Wirklich?«, fragte sie überrascht. »Ich dachte, es wäre die Einsamkeit – oder der Tornado.«
    »Ich meine einen anderen Hunger als den, den du dir vorstellst«, antwortete er. »Das war nicht so, wie wenn du zum Beispiel das Mittagessen vergessen hast und dann Appetit auf ein paar Happen bekommst. Oder wenn du mal einen Tag ohne Essen bleibst. Was ich meine, ist das Gefühl, wenn du sicher bist, nie wieder etwas zu essen zu bekommen; dass es nie wieder etwas zu essen geben wird. Keine Nahrung. Das Wissen, dass du nichts zu es sen hast und nichts zu essen hast und immer noch nichts zu essen hast, bis du schließlich verhungerst – und auch nachdem du verhungert bist, wird es noch immer nichts zu essen geben. Dies ist der Hunger, den ich meine.«
    Es war ein Gefühlsausbruch, der seine Mutter er
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