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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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herausbrachte. Statt dessen fuhr sie in ihrem abwesenden Tonfall fort: »Dein Bruder schläft dort im Garten. Willst du ihn sehen? Wir trinken gerade Tee.«
    Stumm nickte ich. Sie wollte mir helfen, aber ich wehrte ihre Hände ab und stand allein auf. In der Hofmitte stieg ich die Stufen hinab, teilte die Palmenblätter und spähte zwischen den Pflanzen hindurch. Dahinter standen Sofas mit Kissen, und auf einem Silbertablett dampfte eine kupferne Teekanne. Auf einem der Sofas schlief ein Mann, gekleidet in eine indische Tunika. Er war völlig kahl und von einer gipsernen Blässe, die aussah wie von einem winzigen Meißel gefurcht. Seine Körperhaltung war die eines Kindes, dennoch schien er älter als all der Marmor ringsum. Das Wesen sah aus wie ich: dasselbe dekadente Gesicht mit hoher Stirn und hängenden Lidern über tiefliegenden Augen. Aber mit meinem starken und breiten Körper hatte er keinerlei Ähnlichkeit - schmale Schultern und skelettartige Gliedmaßen waren unter dem Stoff seiner Tunika zu erkennen. Über dem Brustkorb trug er einen dicken Verband, dessen Baumwollfasern aus dem bestickten Halsausschnitt ragten. Frederic Senicier, mein Bruder, der seit fast drei Jahrzehnten mit fremden Herzen lebte.
    »Er schläft«, flüsterte Marie-Anne. »Sollen wir ihn wecken? Die letzte Operation ist sehr gut verlaufen. Knapp sechs Wochen ist sie her.«
    In meiner Erinnerung blitzte Gomuns totes Gesicht auf, und ein wütender Schmerz fuhr mir durch den Bauch. Aber Marie- Anne, die gegenüber der Außenwelt anscheinend vollkommen empfindungslos geworden war, fügte hinzu: »Nur er kann ihn am Leben erhalten, verstehst du?«
    Leise fragte ich: »Wo ist der Operationssaal?«
    Marie-Anne antwortete nicht. Ihr Gesicht war nur wenige Zentimeter von dem meinen entfernt, und ich roch ihren Altfrauenatem.
    »Unten«, sagte sie schließlich. »Im Keller des Hauses. Niemand darf dort hingehen. Du hast keine Ahnung .«
    »Wann geht er hinunter?«
    »Louis .«
    »Um wieviel Uhr?«
    »Abends gegen elf.«
    Ich starrte immer noch Frederic an, das greise Kind, dessen Oberkörper sich in unregelmäßigen Abständen hob und senkte. Ich konnte meine Augen nicht von dem Verband wenden, der seinen Kittel blähte.
    »Wie kommt man in das Labor?«
    »Du bist von Sinnen!«
    Ich hatte meine Ruhe wiedergefunden. In langen, rhythmischen Wellen spürte ich mein Blut durch die Adern strömen. Ich wandte mich um und sah meine Mutter starr an.
    »Wie komme ich in diesen gottverdammten Operationsraum?« fragte ich leise.
    Sie senkte die Augen und murmelte: »Warte auf mich.«
    Sie durchquerte den Hof und kam ein paar Minuten später mit einem Schlüsselbund in der Hand zurück. Sie hakte den Ring auf und reichte mir mit ihrem sanften, verlorenen Blick einen einzelnen Schlüssel. Ich nahm ihn und sagte nur: »Ich komme heute abend wieder. Nach elf.«

56
     
    Marble Palace, Mitternacht. Als ich die Stufen hinabstieg, empfingen mich intensive, süßliche Schwaden. Es war der Geruch des Todes, die Essenz der Finsternis und des Bösen, so stark, daß er mir in alle Poren drang. Blut. Sturzbäche von Blut im Geist sah ich eine unsägliche Landschaft vor mir. Ein dunkelroter Hintergrund, auf dem rosafarbene Wellenkämme trieben, wäßriges Karmesin, dunkelbraune Krusten.
    Unten angelangt, stand ich vor der eisernen Tür zur Kühlschleuse, die versperrt war. Mit dem Schlüssel meiner Mutter schloß ich auf. Draußen herrschte stockfinstere Nacht. Aber ich hatte mich nicht getäuscht, als ich von meinem Beobachtungsposten aus eine Gestalt die Treppe hatte hinabschleichen sehen. Das Tier war in seine Höhle zurückgekehrt. Ich schob die schwere Tür auf und betrat mit gezückter Waffe das Experimentierlabor meines Vaters.
    Kälte hüllte mich ein. Sofort wurde mir klar, in welchen grauenhaften Alptraum ich geraten war: ich ging mitten durch Max Böhms Fotografien. In einem gekachelten Raum sah ich in der weißen Neonbeleuchtung einen Wald aus Leichen vor mir. Kadaver hingen an Fleischerhaken, deren Spitzen Wangen, Gesichtsknorpel und Augenhöhlen durchbohrten und auf der anderen Seite blank wieder austraten. Alle diese Leichen stammten von indischen Kindern. Sie baumelten ein wenig und drehten sich mit leisem Quietschen am Haken, und dabei traten ihre Wunden zum Vorschein: offene Brustkörbe, gezackte Schnitte quer über den Körper, schwarze Löcher, die bis auf die Knochen hinabreichten, hervorstehende Gelenke ... Und überall Blut. Ströme von Blut,
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