Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
in mehrerlei Hinsicht ein unliebsamer Besucher war. Nicht nur zwang ich ihn, sich abermals mit dem Fall Rajko zu befassen, sondern rief aufgrund physischer Ähnlichkeit eine dumpfe Erinnerung an vergangene, verdrängte Schrecken wach. Zunächst konnte er sich auf diesen Deja-vu-Eindruck keinen Reim machen und wußte nicht, in welcher Richtung er eine Erklärung suchen sollte. Aber mein Gesicht ging ihm nicht mehr aus dem Sinn, und während der darauffolgenden Wochen kehrte die Erinnerung zurück. Er konnte mit meiner Physiognomie Namen und Umstände in Zusammenhang bringen und begriff, was ich noch längst nicht wußte - die Blutsverwandtschaft, die mich mit Pierre Senicier verband.
    Als ich ihn nach meiner Rückkehr aus Afrika anrief, stellte Djuric mir Fragen, auf die ich ihm keine Antwort gab, und genau damit waren die Zweifel, die er zunächst noch gehabt hatte, vollends ausgeräumt. Er erkannte auch, daß ich mich dem Ziel näherte, der Konfrontation mit dem teuflischen Wesen. Er flog nach Paris und fand mich - durch puren Zufall - just in dem Moment, als ich am Morgen des 2. Oktober von den Braeslers zurückkehrte. Ohne sich zu erkennen zu geben, folgte er mir zur indischen Botschaft, bekam mit List und Tücke heraus, wohin ich wollte, und beantragte mit seinem französischen Paß selbst ein Visum für Bengalen.
    Am Morgen des 5. Oktober war Djuric mir immer noch auf den Fersen und folgte mir zu den beiden Niederlassungen von Monde Unique. Er erkannte Pierre Senicier. Er ging mit mir zum Marble Palace. Er wußte, daß der Augenblick der Konfrontation gekommen war. Für mich. Für ihn. Für den anderen. Aber abends schaffte er es nicht rechtzeitig, sich in den Palast zu schleichen, ohne gesehen zu werden, und verlor deshalb meine Spur. Er ging durch den Innenhof, vorbei an den Krähenkäfigen, stieg die Treppe hinauf und durchsuchte jedes Zimmer, bis er endlich Marie-Anne Senicier fand, gefesselt und verwundet. Ihr Gatte hatte sie gefoltert, um den Grund ihrer Aufgewühltheit zu erfahren. Djuric befreite sie. Die Frau konnte kein Wort sprechen, denn ihr Gesicht war zerschnitten und der Kiefer gebrochen, aber sie rannte hinab in den Keller. Sie wußte, daß ich in der Falle saß. Djuric folgte ihr, doch auf seinen verkrüppelten Beinen war er nicht schnell genug, und als sie ins Labor eindrang, war er noch auf der Marmortreppe.
    Was danach geschehen war, wußte ich; die Ereignisse hatten sich mir so tief eingeprägt, daß ich sie mein Leben lang nicht vergessen werde: der Überfall von Pierre Senicier, die blitzende Klinge, die den Hals meiner Mutter durchtrennte, das Versagen meiner Pistole. Als Djuric auftauchte und die Salve seiner Maschinenpistole abfeuerte, glaubte ich in meinem Narkoserausch an eine Sinnestäuschung. Aber ehe ich in die Finsternis abtauchte, begriff ich, daß mein Schutzengel mich gerettet hatte. Ein Schutzengel, der nicht größer war als ein Zwölfjähriger, aber dessen tödliche Rache das letzte Epitaph des Abenteuers in die Kacheln des Operationsraums graviert hatte.
    Es war sechs Uhr morgens; nun begann ich meine Geschichte zu erzählen. Djuric gab keinerlei Kommentar dazu ab. Als ich fertig war, stand er auf und erklärte mir seinen Plan für die nächsten Stunden. Er hatte die ganze Nacht hindurch gearbeitet, um das Labor für immer zu versiegeln. Die wenigen Kinder, die noch am Leben und überlebensfähig waren, hatte er notdürftig versorgt und fortgeschickt in der Hoffnung, daß die mißgestalteten Wesen in der Stadt der Verdammten ihren Platz finden würden. Er hatte Frederic gefunden, meinen Bruder, der, nach der Mutter rufend, in seinen Armen gestorben war. Dann war er wieder in den Bunker zurückgekehrt und hatte die Leichen im Hauptraum aufgereiht, um sie zu verbrennen. Er hatte mich aus meiner Ohnmacht geweckt, um mit mir zusammen den Scheiterhaufen anzuzünden und in Brand zu halten. »Und die Seniciers?« fragte ich nach langem Schweigen.
    »Entweder wir verbrennen sie zusammen mit den anderen«, antwortete Djuric in gleichmütigem Ton, »oder wir bringen sie nach Kali Ghat, ans Flußufer, und lassen sie nach indischer Tradition einäschern.«
    »Warum sie und nicht die Kinder?«
    »Es sind zu viele, Louis.«
    »Dann verbrennen wir Pierre Senicier hier und bringen meine Mutter und meinen Bruder nach Kali Ghat.«
    Von dem Augenblick an gab es nur noch Flammen und Hitze. In dem Glutofen, den wir entfachten, barsten die Kacheln, und der Gestank von verbranntem Fleisch stieg
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher