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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Trinkwasserbehälter zu installieren, Lebensmittelpakete zu verteilen. Über dreißig Meter erstreckte sich das Zelt - dreißig Meter Nahrung, medizinische Versorgung und guter Wille. Es folgte eine endlose Warteschlange von Kranken, Lahmen, Ausgehungerten.
    Ich setzte mich unauffällig hinter die Bude eines Ohrenheilers und wartete, während ich das Werk dieser Apostel einer besseren Welt betrachtete. Ich sah auch den Bengalis zu, die auf dem Weg zu ihrer Arbeit oder ihrem unausweichlichen Elend waren. Vielleicht kamen sie, um der Göttin Kali eine Ziege zu opfern, bevor sie den Tag in Angriff nahmen, oder um im schmutzigen Wasser des Flusses zu baden. Die Hitze und die Gerüche verursachten mir Kopfschmerzen.
    Endlich, gegen neun Uhr, erschien er.
    Er ging allein, in der Hand eine abgeschabte Ledertasche. Ich nahm alle Kraft zusammen, um aufzustehen und ihn näher zu betrachten. Pierre Doisneau/Senicier war ein hochgewachsener und hagerer Mann. Er trug eine Hose aus hellem Leinen und ein kurzärmeliges Hemd. Seine Gesichtszüge waren scharf, wie aus Stein gemeißelt. Die Stirn reichte bis weit in die gekräuselten grauen Haare hinauf, und sein angriffslustiger Unterkiefer, über dem die Haut sich spannte, trug ein hartes, starres Lächeln zur Schau. Pierre Doisneau. Pierre Senicier. Der Arzt, der Menschen folterte und Herzen stahl.
    Instinktiv umklammerte ich den Griff meiner Pistole. Ich hatte keinen genauen Plan, ich wollte lediglich beobachten, was sich tat. Der Slum schwoll an, noch viel mehr Menschen strömten herbei. Hübsche blonde Mädchen in grellen Shorts, die den indischen Krankenschwestern halfen, reichten Kompressen und Medikamente mit der Miene beflissener Engel. Aussätzige und kranke Mütter zogen vorbei, holten sich ihre Ration Tabletten oder Nahrung ab und nickten mit dem Kopf zum Zeichen des Dankes.
    Es war Viertel nach elf, als Pierre Doisneau/Senicier sich wieder zum Gehen wandte.
    Er verschloß seine Tasche, verschenkte ein Lächeln hier und dort, dann verschwand er in der Menge. Ich folgte ihm in einigem Abstand. Es bestand keine Gefahr, daß er mich in diesem wuselnden Brei lebender Wesen erspähte. Ich hingegen konnte seine hochgewachsene Gestalt fünfzig Meter vor mir gut erkennen. So gingen wir zwanzig Minuten lang hintereinander her. Der >Doc< fühlte sich anscheinend völlig sicher, gefeit gegen Angriffe aller Art. Was hätte er auch zu fürchten gehabt? In Kalkutta war er ein Heiliger, von allen verehrt und umschmeichelt. Und die Menge, die ihn umgab, war der allerbeste Schutz für ihn.
    Senicier ging jetzt langsamer. Wir waren mittlerweile in einem Viertel angelangt, das ein wenig besser aussah - die Straßen waren breiter, die Gehsteige weniger schmutzig. Nach einer Kreuzung erkannte ich eine weitere Niederlassung von Monde Unique. Ich verlangsamte meinen Schritt und vergrößerte den Abstand zwischen uns auf etwa zweihundert Meter.
    Um diese Zeit des Tages herrschte eine drückende Hitze. Der Schweiß rann mir übers Gesicht. Ich zog mich in den Schatten zurück, neben eine Familie, die anscheinend seit jeher auf diesem Gehsteig lebte. Ich mimte die Sorte Tourist, die es liebt, ins Elend anderer einzutauchen, setzte mich zu ihnen und bat um eine Tasse Tee.
    Eine weitere Stunde verging. Ich beobachtete Senicier bei seinen Wohltätigkeiten, jede Geste, jede Verrichtung. Der Anblick dieses Mannes, der nachweislich ein Verbrecher der übelsten Art war und hier den guten Samariter spielte, vorschlug mir den Atem. Ich spürte auf einmal, wie extrem zwiespältig seine Natur war, ich begriff, daß er in jedem Augenblick seines Lebens auch aufrichtig war, gleich, ob er mit beiden Händen in Eingeweide eintauchte oder eine leprakranke Frau versorgte. Im Kampf mit ein und demselben Wahnsinn der Körper, der Krankheit, des Fleisches.
    Diesmal änderte ich meine Taktik. Ich wartete, bis Senicier wieder fort war, um näher zu treten und mit ein paar dieser Europäerinnen, die sich hier als Krankenschwestern betätigten, Bekanntschaft zu schließen. Nach einer halben Stunde hatte ich erfahren, daß die Familie Doisneau in einem riesigen Palast lebte, dem Marble Palace, den ein reicher Brahmane ihnen hinterlassen hatte. Der Doktor, hörte ich, habe vor, dort eine Klinik zu eröffnen.
    Sofort rannte ich davon, so schnell es mir gelang. Mir war die Idee gekommen, im Marble Palace auf Senicier zu warten und ihn auf eigenem Grund und Boden niederzuschießen. In seinem Operationsraum. Nach einer Weile
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