Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
einer blanken Metallsichel den Kopf abtrennte. Das zweite >Nein< blieb mir in der Kehle stecken. Ich ließ die Glock fallen und stürzte langsam rückwärts, zwischen dem Klirren von zerbrechendem Glas. Im selben Moment aber hörte ich eine Reihe von Explosionen und sah, wie der Rumpf meines Vaters in tausend blutige Fetzen zerbarst. Ich glaubte an eine Halluzination. Aber als ich auf dem Boden aufschlug, nahm ich das auf dem Kopf stehende Bild von Dr. Milan Djuric wahr, dem zwergwüchsigen Zigeuner, der mit einer Uzi- Maschinenpistole in der Hand auf den Stufen stand. Aus dem Lauf kräuselte sich der Rauch von der erlösenden Salve.

57
     
    Als ich erwachte, war der Blutgeruch verschwunden. Ich lag auf einem Sofa aus Weidenrohr im Innenhof des Palastes, im perlmutterfarbenen Licht des frühen Morgens, und hörte das gedämpfte Krächzen der Krähen in der Ferne. Abgesehen von diesem leisen Gemurmel herrschte völlige Stille. Ich war immer noch nicht ganz sicher, ob ich begriff, was geschehen war, als eine freundliche Hand mir Tee anbot. Milan Djuric. Er war in Hemdsärmeln, schweißüberströmt, die Uzi hing ihm über der Schulter. Er setzte sich neben mich und begann ohne weitere Vorrede, mit seiner tiefen Stimme seine Geschichte zu erzählen. Ich hörte ihm zu, während ich den ingwerduftenden Tee trank. Seine Stimme tat mir wohl. Sie war ein Echo meines eigenen Schicksals, ebenso vernehmlich wie tröstlich.
    Milan Djuric war eines der Opfer meines Vaters.
    In den sechziger Jahren war Djuric ein Zigeunerkind unter vielen gewesen, das auf unbebauten Geländen in der Umgebung von Paris lebte. Ein Nomade, frei und glücklich. Sein einziger Fehler war, daß er keine Eltern hatte. 1963 schickte man ihn in die Pasteur-Klinik nach Neuilly. Der kleine Milan war damals zehn Jahre alt. Sofort injizierte Pierre Senicier ihm Staphylokokken in die Kniescheiben, um eine Infektion der unteren Gliedmaßen herbeizuführen. Zu experimentellen Zwecken. Die Maßnahme fand wenige Tage vor dem großen Feuer statt - der >Läuterung< des Chirurgen, der kurz vor seiner Demaskierung stand. Trotz seiner Schwäche gelang es Djuric, auf dem Bauch robbend den Flammen zu entkommen. Er war der einzige Überlebende des Experimentierlabors.
    Wochenlang lag er in einer Pariser Klinik, wo er mit großer Sorgfalt gepflegt wurde. Endlich sagte man ihm, er sei außer Gefahr, doch wegen der Infektion der Bindegewebe sei das Wachstum seiner unteren Extremitäten für immer beendet. Djuric litt fortan unter >erworbener Zwergwüchsigkeit<, und bereits mit zehn Jahren begriff der Roma, daß er auf zweifache Weise anders war. Ein doppelter Außenseiter: Zigeuner und Zwerg. Der kleine Junge erhielt ein staatliches Stipendium. Er konzentrierte sich auf seine Ausbildung, las begierig, vervollkommnete sein Französisch, lernte aber auch Bulgarisch, Ungarisch, Albanisch und vertiefte selbstverständlich seine Kenntnisse seiner eigenen Sprache Romani. Er studierte die Geschichte seines Volkes, die indische Herkunft der Roma und die lange Reise, die sie nach Europa geführt hatte. Er beschloß, Arzt zu werden und dort zu praktizieren, wo die Zigeuner noch Millionen zählten: auf dem Balkan. Djuric wurde ein eifriger und brillanter Student. Mit vierundzwanzig Jahren hatte er sein Studium mit großem Erfolg beendet und trat eine Stelle als Assistenzarzt an einem Krankenhaus an, er wurde sogar Mitglied der kommunistischen Partei, um nach Abschluß der praktischen Ausbildung leichter die Genehmigung zu erhalten, sich jenseits des Eisernen Vorhangs niederzulassen, unter seinen eigenen Leuten. Niemals versuchte er, den sadistischen Arzt wiederzufinden, der ihn verstümmelt hatte. Im Gegenteil, er tat alles, um jede Erinnerung an seinen Aufenthalt in der Pasteur-Klinik aus seinem Bewußtsein zu verbannen. Sein Körper war es, der die Erinnerung in sich trug. Fünfzehn Jahre lang reiste Milan Djuric mit seinem Trabant durch die Ostblockländer und kümmerte sich mit Engagement und unermüdlicher Geduld um die Roma. Mehrmals wurde er festgenommen und wegen irgendwelcher angeblicher Verbrechen vor Gericht gestellt, setzte sich aber jedesmal durch; was bei der Voreingenommenheit seiner Richter keine geringe Leistung war. Als >Zigeunerarzt< versorgte er seinesgleichen, die Menschen, die jeder andere Arzt fortschickte - sofern es sich nicht um Zwangssterilisationen und die amtliche Vermaßung des Roma-Volkes handelte.
    Dann kam der Tag, an dem ich an seiner Tür läutete und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher