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Der Fluch der Schriftrollen

Der Fluch der Schriftrollen

Titel: Der Fluch der Schriftrollen
Autoren: Barbara Wood
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flossen an seinem Gesicht herunter. Ein leiser, wimmernder Ton entwich
seiner Kehle und schwoll allmählich zu einem rauhen Schluchzen an. »Wir
warteten auf den Messias«, jammerte er. »Wir warteten und warteten. Er hatte
gesagt, daß er wiederkäme. Er hatte versprochen…«
    »Ben…«
    »Ich bin nicht Ben!« schrie
er plötzlich und stieß ihre Hand weg. »Ich bin David Ben Jona. Und ich bin ein
Jude. Der Messias wird kommen, und Zion wird wiederhergestellt, wie es in den
alten Büchern prophezeit wurde.«
    Judy rührte sich nicht. Sie
behielt ihn fortwährend im Auge, entschlossen, sich keine Angst einjagen zu
lassen. Einen Moment später fuhr Ben sich mit beiden Händen übers Gesicht und
murmelte: »Es tut mir leid. Verzeihe mir. Es war die Überanstrengung, die
Anspannung…«
    »Ich weiß«, erwiderte sie
sanft.
    Ben wischte sich die Tränen
weg und wandte Judy dann seine volle Aufmerksamkeit zu. Er bemerkte die Sorge
in ihren Augen, die liebevolle Art, mit der sie sich um ihn kümmerte. »Wir
waren eine Weile dort, nicht wahr?« meinte er. »Wir waren wieder im alten
Jerusalem.« Sie nickte.
    »Und du warst die ganze Zeit
über bei mir.« Er streckte eine zitternde Hand aus und strich über ihr langes
Haar. »Ich habe dich jede Minute an meiner Seite gespürt, und es machte mich
froh. Du fragst dich wahrscheinlich, was das Ganze bedeuten soll.«
    »Ja.«
    »Und ich ebenfalls, aber der
Sinn und Zweck von dem allen ist auch mir nicht enthüllt worden. Es sollte eben
sein, und so sollten wir uns damit abfinden. Bald wird meine letzte Rolle
eintreffen, und diese ist wirklich die letzte, und dann wird uns Gottes Absicht
offenbart.« Judy richtete sich auf und schaute weg. Sie ließ ihre Augen durch
das dunkle Zimmer schweifen und versuchte angestrengt, etwas zu sehen, was
nicht da war. Sie rief sich ins Gedächtnis zurück, wie es gewesen war, eine
Weile in Jerusalem zu verbringen, an der Seite eines Mannes zu sein, den sie
liebte, sich vollkommen einem Glauben zu verschreiben, der, wie sie wußte, den
Kern aller anderen Glaubensrichtungen bildete.
    In diesem Augenblick gelangte
Judy zu einer überraschenden Erkenntnis. Als Ben über ihr Haar strich und mit
besänftigender Stimme auf sie einredete, wurde ihr klar, daß sie, während sie
in der Nacht zuvor verzweifelt nach einer Möglichkeit gesucht hatte, Ben zu
sich selbst zurückzubringen, heute nacht gar nicht mehr sicher war, daß sie
dies wollte.
    Wie sie ihn so ansah, in Bens
Gesicht schaute, dessen Augen jedoch einem anderen Mann gehörten, wußte sie,
daß sie, wenngleich sie ihn letzte Nacht zu sehr geliebt hatte, um ihn zu David
werden zu lassen, ihn heute nacht zu sehr liebte, um ihn zurückzuverwandeln.
»Du bist glücklich, nicht wahr?« flüsterte sie, obwohl sie die Antwort schon
kannte. »Ja, das bin ich.«
    Wie kann ich dann nur
wünschen, daß du wieder unter Bens Qualen zu leiden hast? fragte sie sich
verzweifelt. Ist es nicht weniger grausam, dich in diesem Zustand zu belassen?
»Judith, du hast ja Tränen in den Augen.«
    »Nein, nein, das kommt nur
von dem vielen Lesen. Acht Stunden…« Sie erhob sich jäh und wandte sich von der
Couch ab. Diesen Mann zu lieben und bei ihm zu bleiben bedeutete nur eines: daß
auch sie die Wirklichkeit aufgeben und den Wahnsinn mit ihm teilen mußte.
    »Ich brauche einen Kaffee«,
verkündete Judy mit fester Stimme und stürmte in Richtung Küche davon.
    Dort in der Dunkelheit, ihr
Gesicht gegen die Wand gepreßt, sah sie den Entscheidungen ins Auge, die sie
treffen mußte. Wenn sie bei Ben bleiben und seinen Wahnsinn ertragen wollte,
führte kein Weg daran vorbei, daß sie selbst ein Teil dieses Wahnsinns würde.
    Und als sie in die Dunkelheit
starrte, kamen die Phantasiebilder zurück: das kurze Aufblitzen von Palmen,
staubigen Straßen und engen Gassen, der Lärm von Straßenhändlern auf dem
Marktplatz, der Duft von Jerusalem im Sommer, der Geschmack von gewässertem
Wein.
    Es wäre so leicht…
    Judy riß sich selbst aus den
Träumereien und schaltete das Licht ein. Daß ihr eigener gesunder
Menschenverstand und ihr Bezug zur Wirklichkeit rasch dahinschwanden, darüber
bestand kein Zweifel mehr. Alles, was ihr blieb, war die Entscheidung, es
wieder geschehen zu lassen oder jetzt wegzurennen und nie mehr zurückzukommen.
Judy hatte keine Zeit mehr, das eine gegen das andere abzuwägen, denn plötzlich
wurde sie durch Geräusche, die aus einem anderen Zimmer kamen, aufgeschreckt.
Sie trat aus der Küche
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