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Der Fluch der falschen Frage

Der Fluch der falschen Frage

Titel: Der Fluch der falschen Frage
Autoren: Lemony Snicket
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kannst, funktioniert sie.«
    Ich wandte nicht ein, dass ich vorher ja auch atmen konnte. Etwas Interessanteres nahm meine Aufmerksamkeit gefangen. Durch das Fenster des Roadsters sah ich eine Reihe riesiger Fässer, alt und deckellos, und neben jedem ragte eine absonderliche Maschine in die Höhe. Die Maschinen ähnelten gigantischen Injektionsnadeln, als bereitete ein Arzt eine Mehrfachimpfung für einen Riesen vor. Hier und da standen Menschen – ob Männer oder Frauen, konnte man durch die Masken nicht erkennen –, die nachprüften, ob auch alles fehlerfrei lief. Das tat es. Scharniereschwingend, zahnrädersurrend tauchten die Nadeln tief in Löcher in den muschelbedeckten Boden hinab und kamen mit einer schwarzen Flüssigkeit gefüllt wieder nach oben. Mit einem leisen, schwarzen Schwappen leerten sie die Flüssigkeit in die Fässer, und dann tauchten sie wieder hinunter in die Löcher, unermüdlich, während ich durch die Schlitze in meiner Maske zusah.
    » Öl«, mutmaßte ich.
    » Tinte«, berichtigte Theodora. » Die Stadt heißt Schwarz-aus-dem-Meer. Am Meer liegt sie natürlich nicht mehr, das Tal wurde ja dräniert. Aber hier wird nach wie vor Tinte gewonnen, die einmal berühmt dafür war, dass sie die dunkelsten, hartnäckigsten Kleckse von allen verursachte.«
    » Und die Tinte kommt aus diesen Löchern?«
    » Diese Löcher sind tiefe, enge Höhlen«, sagte Theodora, » wie Brunnenschächte. Und in den Höhlen leben Tintenfische. Die stoßen die Tinte aus.«
    Ich dachte an eine Freundin von mir, die mit mir die Ausbildung absolviert hatte, ein Mädchen, das sich mit der Unterwasserwelt bestens auskannte. » Aber stoßen Tintenfische nicht nur dann Tinte aus, wenn sie Angst haben?«
    » Ich schätze, diese Maschinen dürften einem Tintenfisch Angst genug einjagen«, sagte Theodora und bog auf einen schmalen Weg ein, der sich inmitten der Muschelschalen einen steilen, schroffen Felshang hinaufwand. Auf seinem Gipfel sah ich durch das Nachmittagsgrau ein schwaches Licht blinken. Ich brauchte ein bisschen, um zu begreifen, dass es von einem Leuchtturm kam, der früher einmal von seiner Felsspitze aus über Meereswogen geblickt hatte, jetzt aber von nichts als dieser weiten, unheimlichen Senke umgeben war. Als sich der Roadster bergan stotterte, sah ich aus dem Fenster auf Theodoras Seite und entdeckte gegenüber den Tintenquellen eine weitere Sonderbarkeit.
    » Der Klausterwald«, sagte Theodora, bevor ich noch fragen konnte. » Als das Tal dräniert wurde, dachte man, alle Meerespflanzen würden von selbst absterben und verdorren. Aber meinen Informationen zufolge hat es der Seetang aus unerfindlichen Gründen gelernt, auf trockenem Land zu wachsen, und jetzt erstreckt sich hier über Meilen dieser riesige Seetangwald. Halte dich fern von ihm, Snicket. Es ist ein wilder, gesetzloser Ort, der noch keinem gut bekommen ist.«
    Sie brauchte mir nicht zu sagen, dass ich mich von dem Klausterwald fernhalten sollte. Sein bloßer Anblick war schon beklemmend genug. Es schien weniger ein Wald als ein endlos ausgedehntes Unterholz, dessen ledrig glänzende Blätter hin und her schwan kt en, als würden sie noch immer vom Wasser gewiegt. Selbst durch die geschlossenen Fenster roch ich den brackigen Geruch nach Fisch und Meeresboden, und ich hörte das Zischeln von Tausenden von Seetangsträngen, die ihre Trockenlegung irgendwie überlebt hatten.
    Als der Roadster endlich die Hügelspitze erreichte, läutete wieder die Glocke, diesmal zur Entwarnung. Wir nahmen unsere Masken ab, und Theodora fuhr auf einer normal gepflasterten Straße weiter, die sich an dem blinkenden Leuchtturm vorbei einen baumbestandenen Hang hinunterwand. Wir passierten ein kleines weißes Häuschen und hielten dann in der Auffahrt zu einem Herrensitz, der so groß war, als wären mehrere Herrensitze miteinander kollidiert. Ein Teil davon sah wie ein Schloss aus mit mehreren hohen Türmen, die in die wolkige Luft ragten, ein anderer Teil erinnerte eher an ein Zelt, denn über einem kunstvoll angelegten Garten voller Brunnen und Statuen spannten sich schwere graue Stoffbahnen, und wieder ein anderer, mit einer schmucklosen Eingangstür und einem überdimensional langen Fenster, hatte etwas von einem Museum. Der Blick aus diesem Fenster musste früher, als noch Wogen gegen die Felsen gebrandet waren, sehr schön gewesen sein. Jetzt war er es nicht mehr. Ich schaute hinab und sah das Blattwerk des Klausterwaldes, das langsame Wellen schlug wie zum
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