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Der Fluch der falschen Frage

Der Fluch der falschen Frage

Titel: Der Fluch der falschen Frage
Autoren: Lemony Snicket
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erwiderte ihren Blick.
    » Das waren nicht meine Eltern«, sagte ich, und wir brausten los.

Zweites Kapitel
    Wer den richtigen Bibliothekar fragt und auf der r ichtigen Landkarte nachsieht, der kann darauf den kleinen Punkt ausmachen, der für eine Stadt namens Schwarz-aus-dem-Meer steht, etwa eine halbe Tagesreise von der Hauptstadt entfernt. Wobei die Stadt in Wahrheit keineswegs am Meer liegt, sondern am Ende einer langen holperigen Straße, die keinen Namen hat und auf keiner Karte dieser Welt verzeichnet ist. Das weiß ich, weil ich mein Praktikum in Schwarz-aus-dem-Meer absolvierte und nicht, wie ich gedacht hatte, in der Hauptstadt. Klar wurde mir das allerdings erst, als S. Theodora Markson mit dem Roadster am Bahnhof vorbeibretterte, ohne auch nur zu bremsen.
    » Fahren wir nicht mit dem Zug?«, fragte ich.
    » Schon wieder die falsche Frage«, sagte sie. » Ich habe dir doch gesagt, es hat eine Planänderung gegeben. Die Landkarte ist nicht das Gelände. Das ist ein Ausdruck, der besagt, dass die Welt nicht der Vorstellung entspricht, die wir uns von ihr machen.«
    » Ich dachte, wir würden hier in der Hauptstadt arbeiten, nur eben am anderen Ende?«
    » Genau das meine ich, Snicket. Du dachtest, wir arbeiten hier in der Stadt, dabei arbeiten wir nicht mal in der Nähe der Stadt!«
    Mir sank das Herz bis auf den Boden des Wagens, der klapperte, weil wir vor einer Baustelle scharf abbogen. Ein Trupp Bauleute riss die Straße auf, um mit den Arbeiten am Brunnen des Siegreichen Kapitals zu beginnen. Morgen (vorausgesetzt, ein Praktikant konnte sich in der Mittagspause wegstehlen) sollte ich mich dort eigentlich mit jemandem treffen, um das Loch auszumessen, das sie gruben. Ich hatte mir eigens für diesen Zweck ein neues Maßband zugelegt, ein extralanges, das nach dem Messen zurück in sein Gehäuse schnurrte und mit einem befriedigenden Klicken einrastete. Das Gehäuse hatte die Form einer Fledermaus, und das Band selbst war rot, als hätte die Fledermaus eine meterlange Zunge. Mir dämmerte, dass ich es nie wiedersehen würde.
    » Mein Koffer«, sagte ich. » Er ist am Bahnhof.«
    » Ich habe dir ein paar Sachen gekauft.« Theodora deutete mit dem bemützten Kopf in Richtung Rücksitz, auf dem ein kleiner, schrundiger Koffer lag. » Ich habe deine Maße bekommen, also werden sie hoffentlich passen. Falls nicht, wirst du entweder zu- oder abnehmen müssen oder ein Stück wachsen oder schrumpfen. Es ist unauffällige Kleidung. Nicht auffallen ist das A und O.«
    Ich dachte, dass ich in Sachen, die mir zu groß oder zu klein waren, wahrscheinlich viel eher auffallen würde, und ich dachte an das Häuflein Bücher, das ich neben die Fledermaus gepackt hatte. Eins davon war besonders wichtig. Es war eine Geschichte des Kanalisationssystems unserer Stadt. Ich hatte vorgehabt, mir auf meiner Zugfahrt ein paar Notizen zu Kapitel5 zu machen. Beim Aussteigen am Bellamy-Bahnhof hatte ich die Notizen zu einem Papierball zusammenknüllen und sie unbemerkt meiner Verbündeten zuspielen wollen. Sie sollte am Zeitschriftenständer vor der Bahnhofsbuchhandlung stehen. Die Landkarte war bis ins Detail ausgearbeitet, aber nun war das Gelände ein anderes. Sie würde stundenlang in Zeitschriften blättern, bevor sie den Zug zu ihrer Praktikumsstelle nahm, aber was würde sie dann tun? Was würde ich tun? Düster starrte ich aus dem Fenster und legte mir diese und andere ausweglose Fragen vor.
    » Deine introvertierte Art kommt nicht gut an«, unterbrach Theodora mein verdrossenes Schweigen. » Introvertiert ist ein Wort, das hier so viel bedeutet wie ›die Zähne nicht auseinanderkriegen‹. Sag etwas, Snicket.«
    » Sind wir bald da?«, fragte ich, obwohl jeder weiß, dass das die falscheste Frage ist, die man dem Fahrer bei einer Autofahrt überhaupt nur stellen kann. Also versuchte ich es mit: » Wohin fahren wir?«, aber Theodora reagierte nicht. Sie kaute auf ihrer Lippe, als wäre auch sie von etwas enttäuscht, und so probierte ich es mit einer anderen Frage, von der ich hoffte, sie würde ihr besser gefallen: » Wofür steht das S?«
    » Sonst wohin«, antwortete sie, und das stimmte. Schon bald hatten wir das Viertel verlassen, dann den Stadtbezirk, und dann lag die Hauptstadt ganz hinter uns, und wir fuhren eine sehr kurvige Straße entlang, so dass ich heilfroh über meinen leeren Magen war. Die Luft roch so eigenartig, dass wir die Fenster des Roadsters hochkurbeln mussten, und es sah nach Regen aus. Nur wenige
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