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Der Fluch der falschen Frage

Der Fluch der falschen Frage

Titel: Der Fluch der falschen Frage
Autoren: Lemony Snicket
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Klebelasche zu lösen und neu zu versiegeln.
    » Ich weiß, wer du bist.« S. Theodora Markson warf den Umschlag auf den Rücksitz. Sie starrte durch die Windschutzscheibe, als würden wir bereits fahren. » Es hat eine Planänderung gegeben. Wir stehen unter außerordentlichem Zeitdruck. Die Situation ist verzwickter, als du ahnst und als ich dir unter den gegenwärtigen Umständen zu enthüllen imstande bin.«
    » Unter den gegenwärtigen Umständen?«, wiederholte ich. » Sie meinen, jetzt?«
    » Natürlich, was denn sonst?«
    » Wenn wir unter solchem Zeitdruck stehen, warum haben Sie dann nicht einfach ›jetzt‹ gesagt?«
    Sie griff über meinen Schoß hinweg und stieß die Tür auf. » Raus«, sagte sie.
    » Was?«
    » So einen Ton dulde ich nicht. Dein Vorgänger, der junge Mann, der vor dir unter mir gearbeitet hat, hat sich nie so einen Ton erlaubt. Nie. Also raus.«
    » Entschuldigung«, sagte ich.
    » Raus.«
    » Entschuldigung«, sagte ich.
    » Willst du unter mir arbeiten, Snicket? Willst du mich zur Mentorin?«
    Ich sah hinaus in die Gasse. » Ja«, sagte ich.
    » Dann lass dir Folgendes gesagt sein: Ich bin nicht deine Freundin. Ich bin nicht deine Lehrerin. Ich bin weder deine Mutter noch dein Vormund noch sonst jemand, der dich an die Hand nimmt. Ich bin deine Mentorin, und du bist mein Praktikant, ein Wort, das hier so viel bedeutet wie ›Person, die unter mir arbeitet und absolut alles tut, was ich ihr auftrage‹.«
    » Ich bin zerknirscht«, sagte ich, » ein Wort, das hier…«
    » Du hast dich schon entschuldigt«, unterbrach mich S. Theodora Markson. » Wiederhol dich nicht. Das ist nicht nur doppelt gemoppelt, es ist auch zu viel des Guten, und du erzählst den Leuten nichts Neues. Es ist nicht zielführend. Es ist unangebracht. Ich bin S. Theodora Markson. Du kannst mich Theodora oder Markson nennen. Du bist mein Praktikant. Du arbeitest unter mir, und du tust alles, was ich dir sage. Ich werde dich Snicket nennen. Es gibt keine leichte Art, einen Praktikanten anzulernen. Meine beiden Methoden sind Vormachen und Meckern. Ich zeige dir, was ich mache, und verlange dann von dir etwas ganz anderes. Hast du verstanden?«
    » Wofür steht das S?«
    » Stell nicht immer die falschen Fragen«, gab sie zurück und ließ den Motor an. » Du hältst dich wahrscheinlich für überdurchschnittlich schlau, Snicket. Du platzt wahrscheinlich vor Stolz auf deinen Abschluss und darauf, dass du es geschafft hast, in fünfeinhalb Minuten aus einem Klofenster zu klettern. Aber du hast keine Ahnung.«
    S. Theodora Markson nahm eine ihrer behandschuhten Hände vom Lenkrad und langte vor sich auf das Armaturenbrett des Roadsters. Erst jetzt bemerkte ich die noch dampfende Teetasse. Schierling stand auf der Tasse.
    » Du hast wahrscheinlich nicht mal bemerkt, dass ich deinen Tee mitgenommen habe, Snicket«, sagte sie, streckte den Arm an mir vorbei und kippte den Tee durch die offene Tür auf die Straße. Er dampfte auf dem Boden weiter, und ein paar Sekunden lang sahen wir beide auf die geisterhafte Wolke, die in der Seitengasse aufstieg. Der Geruch war süß und falsch wie der einer gefährlichen Blume.
    » Laudanum«, sagte sie. » Das ist ein Opiat. Eine Medizin. Ein Schlafmittel.« Zum ersten Mal drehte sie sich zu mir um und sah mich direkt an. Sie sah umgänglich genug aus, hätte ich beinahe gesagt, wenn auch sicherlich nicht zu ihr. Sie sah aus wie eine Frau, die alle Hände voll zu tun hat, was genau das war, worauf ich spekulierte. » Drei Schluck von dem Zeug, und du wärst inkohärent gewesen, ein Wort, das hier so viel bedeutet wie ›wirr vor dich hin murmelnd und nahezu bewusstlos‹. Du hättest niemals deinen Zug bestiegen, Snicket. Deine Eltern hätten dich schleunigst aus dem Café geschafft und dich an einen anderen Ort gebracht, und glaub mir, es wäre kein Ort gewesen, an dem du gern sein möchtest.«
    Die Wolke verschwand, aber ich starrte sie immer noch an. Ich fühlte mich mutterseelenallein in dieser Gasse. Wenn ich meinen Tee getrunken hätte, wäre ich nicht in dem Roadster gelandet, und wenn ich nicht in dem Roadster gelandet wäre, dann wäre ich auch nie im falschen Baum gelandet oder im falschen Keller, dann hätte ich nie die falsche Bibliothek zerstört oder all die anderen falschen Antworten auf die falschen Fragen gefunden, die ich stellte. S.Theodora Markson hatte recht. Es gab niemanden hier, der mich an die Hand nahm. Ich hatte Hunger. Ich schlug die Autotür zu und
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