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Der Fluch der Druidin

Der Fluch der Druidin

Titel: Der Fluch der Druidin
Autoren: Birgit Jaeckel
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erblindet und sähe die Welt nur noch durch einen Schleier, der den äußeren Schein hindurchließ und das wahre Leben ausschloss.
    »Wer bist du?«, stieß sie atemlos hervor.
    »Nando.«
    Ein nordischer Name, mit Gleichgültigkeit ausgesprochen. Sumelis zwang sich, sich auf den Klang des Namens zu konzentrieren, der das Einzige war, was sie von ihrem Entführer fassen konnte, anstatt auf die nagende Verunsicherung, die sie zu lähmen drohte. Schlagartig hatte die vertraute Wirklichkeit der Welt mit ihren leuchtenden Seelen, in der sie sich zeitlebens wie selbstverständlich bewegt hatte, einen Riss bekommen. Der Schock wirbelte einen Strudel aus Fragen auf, doch sie war zu verwirrt, um klar denken zu können, und stellte wahllos die erste, die ihr sinnvoll erschien.
    »Haben die Druiden dich hierfür bezahlt?«
    Aus irgendeinem Grund hatte sie den Eindruck, dass die Frage ihn amüsierte, auch wenn sie nicht sagen konnte, weshalb, und sie auch keine Antwort erhielt.
    Sumelis hob die gefesselten Hände und presste die Handballen gegen ihre Stirn. Sie hatte Kopfschmerzen, ansonsten ging es ihr gut. Sie wusste, sie sollte eigentlich Angst um ihr Leben haben, aber im Moment verstörte sie der Verlust ihrer Gabe mehr als alles andere.
    Seit ihrer Geburt hatte sie Seelen sehen können; es fiel ihr so leicht wie das Atmen. Sie sah Seelen in der Form von Feuer, von Flammen, die den Kern eines jeden Menschen bildeten, in ihn eintraten, wenn er geboren wurde, und den Körper im Tod wieder verließen, um sich auf den Weg in die Andere Welt zu machen. Oft konnte Sumelis mit ihrer Gabe auch erkennen, ob es einem Mensch gutging oder schlecht, denn starke Gefühle veränderten den bläulichen Grundton einer Seele. Hass, Freude, Schmerz – all das konnte sie als schillernde, manchmal schreiende Farben sehen. Niemals, seit sie sich erinnern konnte, hatte sie einen Menschen getroffen, nach ihrer Gabe gegriffen und …
    … nichts gesehen.
    »Kannst du mir die Fesseln etwas lockerer machen?«, bat sie. »Sie schneiden ein.«
    Nando löste sich von dem Baum, an den er gelehnt saß, und beugte sich näher zu ihr. Jetzt konnte sie erkennen, dass er graue Augen hatte – so klar und scharf wie das Metall, das er gerade noch geschliffen hatte. Ein Hauch von Neugierde gesellte sich zu der Kälte in ihnen.
    »Hast du denn keine Angst vor mir?«, fragte er.
    »Nein. Sollte ich das?«
    »Ja.«
    Sumelis zögerte. »Und du?«, gab sie die Frage schließlich mit mehr Trotz als Tapferkeit zurück. »Warum hast
du
keine Angst vor mir?«
    »Weshalb sollte ich?«
    Sie schwieg. Sie hatte keine Ahnung, was er über sie wusste, und sie wollte ihm nichts verraten. Nandos nächste Worte zeigten jedoch, dass ihm durchaus klar war, wer – oder besser
was
 – sie war.
    »Ich habe keine Angst vor Hexen, Zauberinnen und Dämonen, wenn du das meinst. Man hat mich schon oft verflucht, aber wie du siehst, erfreue ich mich nach wie vor besten Wohlbefindens.«
    Sumelis hörte, was er sagte, doch ihr entging der Unterton, der in seinem letzten Satz mitschwang. Nando hatte ihre Handgelenke ergriffen und prüfte das Seil, das sie zusammenband. Seine Haut fühlte sich warm auf ihren kalten Händen an, eine beiläufige Berührung, die alles war, was Sumelis brauchte. Sie senkte die Lider und konzentrierte sich.
    Sie hatte ihre Gabe doch nicht verloren. Sie sah etwas. Etwas, was sie noch nie zuvor in einer Seele gesehen hatte: Schatten über einem blauen See, sein Blau kaum heller als schwarz. Es gab keine Flammen. Es war, als hätte sich das Feuer seiner Seele verflüssigt und wäre dann in dieser Form erstarrt, wie Eis oder die Dunkelheit in der Tiefe einer Gletscherspalte. Die Schatten über dem eingefrorenen See spiegelten sich darin, finsteren Wächtern gleich, die nichts hindurchließen. Und dennoch glaubte Sumelis, einmal kurz in den Tiefen des Sees etwas blitzen zu sehen. Ein Funke ähnlich einer Sternschnuppe, ein verstörend vergänglicher Hauch von Ewigkeit. Fasziniert konzentrierte sie sich noch ein wenig mehr.
    »Wenn du gerade versuchst, mich mit deinen magischen Fähigkeiten zu ermorden, verschwendest du deine Zeit.« Nando zog seine Hände fort und unterbrach damit die Verbindung. Blinzelnd öffnete Sumelis die Augen.
    »Die Fesseln sind locker genug«, sagte Nando. Er hatte nichts an ihnen verändert. »Solange du nicht daran reißt, schneiden sie auch nicht ein.«
    Sumelis kehrte in das Hier und Jetzt zurück. Erleichterung darüber, dass sie
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