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Der Finger Gottes

Der Finger Gottes

Titel: Der Finger Gottes
Autoren: Andreas Franz
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Kapelle waren ein einziges riesiges Blumenmeer, dazu Abschiedsgrüße aus dem ganzen Land.
    Die ersten Gäste, meist solche, die nicht aus Waldstein stammten, erschienen bereits um halb zehn, obwohl die Trauerfeierlichkeiten erst um elf begannen. Reporterteams nicht nur aus Deutschland waren angereist, um zu berichten, Interviews vor Ort zu führen und, wenn möglich, reißerische Hintergrundberichte zu liefern. Storys von Trauer und Elend in Schwarzweiß oder in hochglänzendem Vierfarbdruck verpackt. Wenn Reporter überhaupt zu gierigen Bestien wurden, dann im Angesicht von Katastrophen. Die Auflagen der Zeitungen schnellten sprunghaft nach oben, die Einschaltquoten der Nachrichtensendungen erreichten seltene Werte.
    Bischof Frank aus Nürnberg war gekommen, der Bundespräsident, der Ministerpräsident von Bayern, beide samt Ehefrau, und viele bekannte und weniger bekannte Gesichter. Bereits um zehn war die Kirche bis auf den letzten Platz besetzt, sämtliche Plätze in der Kapelle waren reserviert für die Hinterbliebenen und eine Handvoll Prominente. Kameras waren aufgestellt und Mikrofone. Vor der Tür drängten sich Hunderte von Schaulustigen, zwei Lautsprecher übertrugen die Feierlichkeit nach draußen.
    Um fünf vor elf stieg Engler mit langsamen Schritten die knarrenden Stufen zur Kanzel hinauf, worauf augenblicklich jedes Murmeln verstummte. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Er schlug die Bibel auf, um einen Vers zu lesen. Seine Hände und Beine zitterten, er schwitzte wieder. Sie sangen ein getragenes, trauriges Lied, bei dem fast alle zu weinen anfingen. Danach betete Engler. Als er geendet hatte, blickte er auf, seine Stimme wurde fest.
     
    »Werte Hinterbliebene, liebe Trauergemeinde, Bürger von Waldstein, liebe Gäste. Wir haben uns heute hier aus einem der schrecklichsten und traurigsten Anlässe versammelt, die der menschliche Geist sich nur vorstellen kann. Aus einem Anlaß, der uns alle so überraschend und so schwer getroffen hat, der ein solch unermeßlich tiefes Loch in unsere Stadt und viele unserer Familien gerissen hat, und von dem sich dieser kleine Ort lange nicht wird erholen können. Es ist ein Anlaß, den sich keiner gewünscht hat und dem wir doch ins Auge sehen müssen, den wir nicht ungeschehen machen können.
    Noch keine drei Tage sind vergangen, seit Waldstein die schwersten Stunden seiner Geschichte erlebte. Ein Tornado, ein gewaltiges Unwetter hat ausgerechnet diese kleine Stadt heimgesucht. Er hat viele Menschen getötet, junge und alte, Väter und Mütter, unschuldige Kinder. Er hatFamilien auseinandergerissen oder gar ausgelöscht. Er hat vielen all ihr Hab und Gut geraubt und unermeßliche Trauer zurückgelassen. Eine Trauer, die für viele nie vergehen wird. Am Tag nach der Katastrophe habe ich viele Menschen weinen sehen, ich sah in ihre leeren, traurigen, bittenden Augen. Und ich sah die unausgesprochenen Fragen in ihren Gesichtern. Warum ich, warum wir, warum überhaupt?
    Ich verstehe diese und andere Fragen, vor allem aber versteht sie Gott.
    Manch einer mag hergehen und die Schuld bei Gott suchen. Manch einer mag sich fragen, wie Gott es zulassen konnte, daß so etwas geschieht, hier in unserer friedlichen kleinen Stadt. Viele werden mit Gott hadern, einige sich abwenden und sagen, mit diesem Gott möchte ich, möchten wir nichts mehr zu tun haben. Wieder andere aber werden das Unglück hinnehmen, die Ärmel hochkrempeln und sagen, wir werden es schon schaffen. Glauben Sie mir, wenn es jemals in meiner Macht gestanden hätte, das Geschehene zu verhindern, ich hätte es getan. Aber diese Macht ist mir nicht gegeben, keinem Menschen wurde je die Macht eingeräumt, den Naturgewalten Einhalt zu gebieten. Und das ist auch gut so, denn Gott ist und bleibt der Allmächtige. Er allein bestimmt die Abläufe der Natur, er allein kann Leben geben und Leben nehmen.
    Er hat viele von uns auf das härteste geprüft, manch einen bis an die Grenzen der Belastbarkeit, vielleicht sogar darüber hinaus. Viele von uns verstehen nicht, was hinter alldem steckt. Doch wer kennt nicht die Geschichte von Hiob, diesem großen, glaubensstarken Mann, der alles verlor, was er je besaß, außer sein Leben. Er wurde mit Aussatz geschlagen, sein Hab und Gut wurde ihm genommen, seine Familie dezimiert. Selbst seine, wie sich später herausstellte, zweifelhaften Freunde wandten sich von ihm ab. Ihmblieb für eine lange Zeit nichts als Krankheit, Trauer und Schmerz. Und doch hat er eines nie
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