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Der Finger Gottes

Der Finger Gottes

Titel: Der Finger Gottes
Autoren: Andreas Franz
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lassen. Und alle werden ihnen die Füße küssen und in den Arsch kriechen!«
    »Sie sind ein elender Zyniker! Aber im Gegensatz zu mir sind Sie noch jung und können lernen. Und wenn Sie lange genug hier sind, werden Sie mich und die andern hoffentlich verstehen.«
    »Mag sein, Herr Pfarrer. Ich befinde mich ja schon auf dem besten Weg dorthin. Was soll’s, lassen wir das leidige Thema. Was ist mit Nathan?«
    »Er wird übermorgen beigesetzt. Ich habe gestern mit seinen Eltern gesprochen. Sie hegen Ihnen gegenüber keine bösen Gefühle mehr. Sie zeigten sich sogar bis zu einem gewissen Grad einsichtig, was ihre eigenen Fehler angeht. Ob Sie es glauben oder nicht, Frau Phillips hat geweint.«
    »Krokodilstränen?«
    »Nein, ich glaube nicht«, erwiderte Engler säuerlich, blickte dann demonstrativ zur Uhr. »Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber ich habe noch eine Menge zu tun.« Er stand auf und reichte Brackmann die Hand.
    Brackmann verließ die Kirche. Den ganzen restlichen Tag verbrachte er grübelnd im Streifenwagen oder im Büro. Am Nachmittag kam ein Fernsehteam, um ihn zu interviewen, doch er blieb wortkarg, sagte nur das Nötigste. Er war zur Bank gegangen, um den Scheck einzulösen. Der Schalterbeamte meinte, es würde etwa zwei Tage dauern, bis der Scheck gutgeschrieben sei.
     
    Der Wiederaufbau fand in rasantem Tempo statt. Die gedrückte Stimmung unter der Bevölkerung wurde von dem Elan überdeckt, mit dem die Wiederherstellung des alten Stadtbildes angegangen wurde. Man half sich gegenseitig, was bei vielen den Schmerz und die Trauer linderte. Zahlreiche Bautrupps waren angerückt, um schnellstmöglich all jenen, die noch in Notunterkünften oder bei Freunden oderVerwandten wohnten, wieder ein eigenes Haus zu bauen. Doch selbst wenn die Stadt vollkommen wiederaufgebaut würde, wenn man die äußeren Wunden heilte, so blieben für Zeit und Ewigkeit sichtbare Narben übrig. Denn über die Stadt war mehr als nur ein Tornado hereingebrochen.

Kapitel 44
    Die Nacht vor der Trauerfeier. Unruhig wälzte sich Engler in seinem Bett von einer Seite auf die andere, stand auf, weil er nicht schlafen konnte, ging ans Fenster, um tief die frische Nachtluft einzuatmen, betrachtete den klaren Sternenhimmel, las in seinem Redemanuskript, nahm hier und da Verbesserungen vor, trank Sherry, stopfte sich die Pfeife und grübelte; sein Magen krampfte sich zusammen, wenn er an den kommenden Tag dachte. Dazu das unerfreuliche und unergiebige Gespräch mit Brackmann, der noch immer keine Ruhe gab. Wenn je einer in Waldstein die Wahrheit offen ausgesprochen hatte, dann Brackmann. Aber auch er war schließlich in dem von den Vandenbergs gesponnenen engmaschigen, klebrigen Netz hängengeblieben.
    Die Trauerfeier! Warum hatte sein Bischof ihm diese Aufgabe übertragen? Warum übernahm diese nicht ein hoher Würdenträger? Warum ausgerechnet er?! Was immer er sagte, die Leute würden ihn nicht verstehen, ihm vielleicht nicht einmal zuhören.
    Mitten in der Nacht, um zwei Uhr, ging er hinunter in sein Arbeitszimmer, setzte sich hinter den Schreibtisch, nahm die Bibel zur Hand, blätterte wahllos darin herum, in der Hoffnung, plötzlich die Worte zu finden, die, wenn er sie vorlas, jedem sofort ins Herz stießen. Er fand sie nicht. Gott half ihm nicht, er ließ ihn allein. Kurz vor Sonnenaufgang schlief er in seinem Sessel ein, doch schon um halb siebenerwachte er wieder. Mathilde stand in der Tür. »Guten Morgen, Herr Pfarrer«, sagte sie. »Haben Sie gut geschlafen?«
    Er streckte sich und sagte: »Ach, Mathilde, ich werde erst wieder gut schlafen, wenn dieser Tag vorüber ist. Glauben Sie mir, daß ich nervös bin?«
    Sie nickte verständnisvoll. »Kommen Sie, frühstücken Sie, machen Sie sich frisch, und Sie werden sehen, dann sieht die Welt schon viel freundlicher aus.«
    Er duschte abwechselnd kalt und warm, rasierte sich, zog sich an und ging zu Mathilde in die Küche. Das Frühstück stand bereits auf dem Tisch. Er aß ohne Appetit, las dabei ein letztes Mal seine Predigt durch.
    Um kurz nach acht kam ein junger Soldat. »Guten Morgen«, sagte er und stand stramm, »ich soll Ihnen nur sagen, daß alles bereit ist.« Was nichts anderes hieß, als daß die Gräber ausgehoben waren und die Särge davorstanden.
    Draußen hatten sich mehrere Reporter versammelt, die Interviews mit Engler wollten, doch er verwies sie auf die Zeit nach der Trauerfeier. Das ganze Gebiet um die Kirche, der Friedhof und das Innere der
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