Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Feind meines Vaters - Roman

Der Feind meines Vaters - Roman

Titel: Der Feind meines Vaters - Roman
Autoren: Almudena Grandes
Vom Netzwerk:
Wellen, eine nach der anderen, die Freude meiner Mutter hinweggespült hatten. Ich hatte entdeckt, dass sie nicht übertrieb, wenn sie sagte, ein Mann in ihrem Dorf müsse mit einer Tomate und ein paar Weintrauben am Tag auskommen und es gebe dort Arme, die noch viel ärmer waren als wir. Auf dem Bahnsteig wartete Vater in seinem dicken Mantel auf uns. Ich freute mich so, ihn zu sehen, dass ich das Fenster herunterschob, seinen Namen rief und heftig mit den Armen fuchtelte, ohne den Willkommensgruß der Kälte zu spüren, die in meine Nase und Ohren drang, um meine Rückkehr zu feiern. Mutter fragte nicht einmal, wieso er da sei, statt wie verabredet an der Bushaltestelle im Dorf zu warten. Er erklärte, er habe uns so vermisst, und sie umarmte ihn, als wären sie verliebt, als hätten sie noch nicht geheiratet, als wären wir noch nicht geboren, stünden nicht vor ihnen, sähen sie an und hörten, wie Mutter sagte, nie wieder, niemals fahre ich dorthin zurück, Antonino, das kannst du mir glauben …
    »Und was ist mit dir, Nino?« Vater stellte meine Schwester Pepa auf den Boden, legte mir die Hände auf die Schultern und gab mir einen Kuss. »Hat dir das Meer gefallen?«
    »Ja, sehr, Vater, es ist so groß … riesig.«
    Das antwortete ich, und er lächelte, als hätte er genau das erwartet. Da wusste ich, dass ich ihm sonst nichts sagen würde. Ich würde ihm nicht erzählen, dass meine Cousins mir die Schuhe gestohlen hatten, als ich sie auszog, um wie sie barfuß am Strand zu spielen, und ich sie nicht wiedergefunden hatte, bis Mutter davon erfuhr und, statt mich auszuschimpfen, wutentbrannt auf die Straße lief und sie mir wenig später zurückbrachte. In beiden Schuhen steckten noch die Socken, genauso wie ich sie neben einem Boot liegen gelassen hatte. Ich würde ihm nicht erzählen, dass Tante María die Eier, die ihre Hühner legten, verkaufte, weil sie zu viel Geld einbrachten, als dass man sie ihren Kindern hätte geben können, und auch nicht, dass Mutter uns heimlich Brot und Käse zugesteckt hatte, damit wir bei Großmutter nicht um einen Imbiss bettelten. Ich würde ihm nicht erzählen, dass mich am Tag der Hochzeit ein hagerer Mann, der wie alle Männer dort braungebrannt war, vor der Kirche fragte, ob ich der Sohn des Guardia-Civil-Beamten sei, und mir dann erklärte, er habe mich nur gefragt, weil er froh sei, nicht mein Vater zu sein. Dieser Mann, ein alter Verehrer meiner Mutter, hatte mich mit einem schiefen, angespannten Lächeln angesehen, das mir Angst einflößte, aber auch das erzählte ich niemandem.
    Der Mann, der auf der Rückfahrt mit uns im Zug fuhr, war ebenfalls braungebrannt und hager, aber auch sehr schmutzig. Sein Hemd war auf einer Seite zerrissen, und an der Stirn klaffte eine alte Wunde mit einem Rinnsal aus verkrustetem Blut. Er stand da und sah zu Boden; gelegentlich warf er mit einem Ausdruck stummer Traurigkeit einen Blick aus dem Fenster, verstohlen, als verabschiedete er sich von der Landschaft und wollte nicht, dass die anderen es bemerkten. Manchmal nahm er mit der linken Hand eine Zigarette aus der Hosentasche, steckte sie in den Mund und bat den Beamten der Guardia Civil, der neben Mutter saß, mit einer Kopfbewegung um Feuer. Wenn er an der Zigarette zog, sah ich, wie er am ganzen Leib zitterte, die Hand, der Arm, die Lippen. Während der ganzen Fahrt sagte er kein Wort. Und den anderen Guardia-Civil-Beamten, an dessen linke, unter dem olivgrünen Ärmel hervorlugende Hand er mit seiner rechten gefesselt war, würdigte er keines Blickes.
    Er war ein Häftling, oder vielleicht noch nicht, vielleicht hatten sie ihn gerade erst festgenommen und überstellten ihn jetzt ins Gefängnis. Das wusste ich, weil ich eine ähnliche Szene schon einmal erlebt hatte, als ich mit Vater nach Jaén fuhr; damals war der Häftling eine Frau gewesen, die nur dasaß, den Kopf in den Händen vergraben, und leise vor sich hin weinte. Deshalb hatte sie mich nicht so sehr beeindruckt wie dieser Mann. Und damals hatte auch niemand pinkeln müssen.
    »Ich muss ganz dringend, Macario, ich halte es nicht länger aus.«
    Der Beamte der Guardia Civil, an den der Mann mit Handschellen gefesselt war, unterbrach seinen Kollegen, der sich gerade mit meiner Mutter unterhielt, woraufhin dieser mit einer lustlosen Kopfbewegung, die ich nicht begriff, seinem Unmut Luft machte.
    »Kannst du nicht noch ein bisschen anhalten, Mann?« Es klang fast wie eine Bitte. »Bis zum nächsten Bahnhof.«
    »Unmöglich,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher