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Der Fall Struensee

Der Fall Struensee

Titel: Der Fall Struensee
Autoren: Rita Hausen
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überlebten nur durch Zufall die Katastrophe.
    Das Erdbeben warf für Philosophen und Theologen ein altes Problem neu auf: Wie kann ein allmächtiger und gütiger Gott ein so gewaltiges Unglück wie das Erdbeben von Lissabon zulassen? Warum hatte das Beben die Hauptstadt eines streng katholischen Landes getroffen, das für die Verbreitung des Christentums in der Welt wirkte? Und warum überdies am Festtag Allerheiligen? Und warum waren zahlreiche Kirchen dem Beben zum Opfer gefallen, aber ausgerechnet das verrufenste Viertel Lissabons, die Alfama , verschont geblieben?
    Der Glaube vieler Menschen wurde erschüttert, denn man dachte, dass sich Gott als Schöpfer und Erhalter der Erde nicht als sehr gütig oder gerecht erwiesen hatte, denn ausnahmslos alle wurden dem gleichen Verderben preisgegeben: Kinder, Alte, Kranke neben Geschäftsleuten, Regierungsbeamten, Dieben, Mördern und Prostituierten. Aber die Geistlichen beeilten sich, das Unglück als eine Strafe für die Lissaboner Bürger zu bezeichnen. Mehr fiel ihnen dazu nicht ein. Genauso hatten sie ja auch die Pest als Geißel Gottes bezeichnet.
    Leibni tz hatte sich schon etwa vierzig Jahre zuvor mit dem Problem der Rechtfertigung Gottes angesichts des Leids beschäftigt und war zu dem Schluss gekommen, dass die Welt in der sie lebten, trotz allem die beste aller Welten war. Darüber machte sich Voltaire in seinem „Candide“ nun angesichts der Katastrophe mit beißendem Spott lustig.
    Bei einem antiken Philosophen hatte Struensee eine andere Lösung des Dilemmas gefunden: Entweder kann Gott Übel verhindern und will es nicht oder er will sie verhindern und kann es nicht. Beides ist mit der Vorstellung von einem gütigen und allmächtigen Gott nicht zu vereinbaren.
    Ähnliche Überlegungen hatte auch sein Bruder Carl August angestellt, denn er gab sein Theologiestudium auf und wandte sich der Jurisprudenz zu.
    Mit all diesen Fragen hatte sich Struensee in seiner Jugend gründlich auseinandergesetzt und sie dann beiseite gelegt. Er wollte diese theoretischen Überlegungen durch die Praxis ersetzen. Deshalb war er Arzt geworden. Und schließlich Politiker. Ihm fiel ein, dass Epikur vor einer politischen Tätigkeit warnte, sie bringe so viel Unsicherheit in den Lebenslauf, dass ein Leben im Verborgenen vorzuziehen sei. Struensee seufzte tief.
    Wie recht er hatte. Ähnliche Sichtweisen fand man bei Rousseau: „Ein Mensch, der wohltätig sein möchte, kann dieser Neigung nur schlecht in den Städten nachgehen, wo er fast nur Intriganten oder Schurken findet …“ Auch Rousseau riet zum Rückzug aus der Gesellschaft.
    Da er das nicht getan hatte, befand er sich nun im Kerker und wartete auf seine Hinrichtung. Doch die Verzweiflung der ersten Wochen war gewichen, er wunderte sich selbst darüber und ihm fiel noch ein weiteres Zitat von Rousseau ein: „Der Tod wird mich niemals daran hindern, gelebt zu haben.“ Und bei diesem Gedanken wurde ihm auch bewusst, dass er freier gelebt hatte als die meisten anderen, nahezu unbehelligt von schlechtem Gewissen und unnötigen geistigen Beschränkungen in Form von Denkverboten oder moralischem Zwang. Ja, er hatte das Leben genossen, aber dabei nicht nur an sich selbst gedacht. Er wollte, dass auch andere so leben konnten und dafür hatte er sich eingesetzt.
    Münter fuhr fort, ihn in regelmäßigen Abständen zu behelligen. Struensee konnte ihn nicht loswerden. Eines Morgens verkündete er, er habe einen Brief seines Vaters. Struensee las: „Mein Sohn, mein Sohn, wie gar tief beugst Du uns! Ach, wärest Du ein Medicus geblieben! Deine Erhöhung, die wir durch die Zeitungen erfahren haben, ist uns nicht erfreulich gewesen, sondern wir haben sie mit Kummer gelesen. Ach! Dass Du in allen Deinen Geschäften ein lauteres Auge mit vieler Weisheit, Gottesfurcht und Demut zum wahren Besten des Dänischen Landes bewahrt, und den Befehlen eines allerhuldreichsten Souveräns Dich mit unterworfen hättest.
    Wir können hierüber aus Mangel der Erkenntnis nicht urteilen, aber wisse, dass, so sehr wir unsere Kinder lieben, wir ihre Vergehungen nicht billigen, nicht entschuldigen, nicht bemänteln, sondern vielmehr alle Sünden hassen, verfluchen, verabscheuen und Gott preisen, wenn er seinen gerechten Zorn über die Gottlosen offenbart und seine Barmherzigkeit Bußfertigen beweiset. Der Herr unser Gott sei in deiner Gefangenschaft Dein Arzt.“
    Struensee wühlte in seinem Bart, der ihm wieder gewachsen war, und sah zu Münter hinüber.
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