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Der Fall Struensee

Der Fall Struensee

Titel: Der Fall Struensee
Autoren: Rita Hausen
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keine Rücksicht genommen. Man sperrt die Delinquenten in enge Zimmer, in die kaum frische Luft kommt. Es verbreitet sich übler Geruch durch Exkremente und das Stroh verfault ihnen unter dem Körper, da es selten gewechselt wird und wegen der Feuchtigkeit in den Zellen.
    Sie werden denkbar schlecht ernährt. Bei Krankheit werden sie nicht von den Gesunden getrennt, oder wenn es Krankenstuben gibt, der willkürlichen Behandlung eines Kameraden überlassen. Natürlich ist es richtig, sie zum Arbeiten anzuhalten, aber häufig wird das Zuchthaus in eine Fabrik umgewandelt, die Arbeit soll einem Fabrikanten einen wirtschaftlichen Vorteil erbringen.
    Ein unmenschlicher Zuchtmeister achtet darauf, dass sie ein bestimmtes Quantum oder einen Überschuss erarbeiten, andernfalls sie erbarmungslos ausgepeitscht werden. Überhaupt sind die Prügelstrafen in manchen Zuchthäusern so grausam, dass viele aus Verzweiflung Selbstmord begehen. Das Aufsichtspersonal ist häufig wenig tauglich, viele sind Trinker oder Invaliden. Sie haben zu viel Gewalt über die Zuchthäusler und werden despotisch und gefühllos. Sie vergessen, dass die Delinquenten immer noch Menschen sind.“
    „Tja“, sagte Münter mit geheucheltem Mitgefühl, „und nun sind Sie selbst ein Delinquent, der sich auf faules Stroh legen muss.“
    Schlüssel rasselten an der Tür und Juel kam mit Suppe und Brot herein. Endlich entschloss sich Münter zu gehen. Struensee aß hungrig die Mehlsuppe, in der einige Bohnen schwammen.
    Dann versuchte er wieder, im Geiste aus seinem Kerker zu entfliehen. Ihm kamen Erinnerungen an seine Kindheit in den Sinn. Vor seinem inneren Auge sah er das Kirchenschiff der Ulrichskirche in Halle. Der Raum war nüchtern weiß, auf dem Altar lag die aufgeschlagene Bibel zwischen schweren Silberleuchtern. Dahinter befand sich das Bild des Gekreuzigten. Auf dem Bild war es Nacht. Von dem fahlen Leib des Sterbenden, dessen dornengekröntes Haupt mit den geschlossenen Augen vornüber geneigt war, ging ein fahles Licht aus und enthüllte die Muskeln der Arme, die wie Stricke gedreht waren, den schwächlichen Rumpf, die knochigen Knie und die lang gestreckten Füße, die schon kalt und erstarrt wirkten. Zu Füßen des Gekreuzigten war eine kleine grauweiße Schlange, die ekelhaft und tot herabhing. Er hörte die hellen Stimmen der Waisenkinder, die das Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“ sangen; er sah, wie sein Vater, breit und gewichtig die kleine knarrende Treppe zur Kanzel hinaufstieg und die Hände vor sich gefaltet, sein Gesicht auf die Balustrade der Kanzel legte und betete. Die weithin sichtbare Demut seines Vaters vor so vielen Menschen kam ihm immer unpassend und übertrieben vor. Selbst jetzt, allein in seiner Zelle, war ihm das peinlich. Welch eine widerliche, freudlose Religion! Das Leid wurde verherrlicht, der Mensch mit Hinweis auf die Erbsünde erniedrigt. Wie sollten sich da Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein entwickeln? Auch Gottvertrauen war nur schwer möglich.
    Er erinnerte sich auch an das furchtbare Erdbeben in Lissabon. Er war achtzehn und arbeitete gerade an seiner Dissertation. In der Zeitung stand ein Augenzeugenbericht, den er mit großer Anteilnahme gelesen hatte, sodass er sich daran noch genau erinnern konnte. Um 9:40 Uhr am Allerheiligentag 1755 erschütterte ein Erdbeben Lissabon drei bis sechs Minuten lang, riss dabei meterbreite Spalten im Boden auf und verwüstete das Stadtzentrum. An zahlreichen Stellen brachen schwere Brände aus. Die Überlebenden der Erdstöße flüchteten sich in den Hafen und sahen dort, dass das Meer zurückgewichen war und einen mit Schiffswracks und verlorenen Waren bedeckten Seeboden freigelegt hatte. Wenige Minuten danach überrollte eine Flutwelle den Hafen und schoss den Tejo flussaufwärts. Zwei kleinere Wellen folgten nach. Die Flutwellen löschten zwar die Feuer, rissen aber durch ihre Wucht die noch stehenden Gebäude mit sich.
    Später wurde berichtet, dass der Katastrophe etwa 90.000 Menschen zum Opfer gefallen und der überwiegende Teil der Gebäude in Lissabon zerstört worden waren, auch die königlichen Paläste und Bibliotheken mit ihrem riesigen Bücherbestand. Das Erdbeben zerstörte auch fast alle Kirchenbauten von Lissabon und ein Hospital verbrannte in der anschließenden Feuersbrunst, wobei auch Hunderte der Patienten umkamen. Aber das Viertel, in dem es viele Freudenhäuser und Wirtshäuser gab, blieb verschont. Der König von Portugal und seine Familie
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