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Der Fall Lerouge

Der Fall Lerouge

Titel: Der Fall Lerouge
Autoren: Èmile Gabroriau
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Kinn, dicke Lippen und eine Nase, deren Spitze nach oben wies. Seine kleinen grauen, rotumränderten Augen waren ohne bemerkenswerten Ausdruck, jedoch stets in Bewegung. Sein schütteres Haar ließ sehr große und abstehende Ohren sehen. Ausgesuchte Kleidung, weiße Wäsche, feinste Seidenhandschuhe und eine goldene, dreimal um den Hals geschlungene und in einer Westentasche endende Kette bestimmten im übrigen die Erscheinung.
    Mit einer tiefen Verbeugung fragte Tabaret: »Sie haben nach mir gesandt?«
    Daburon war noch ganz in Verwunderung über die merkwürdige Gestalt versunken, als er antwortete: »Vielleicht gelingt es Ihnen, ein paar Spuren zu entdecken, die den Tatbestand aufklären helfen.«
    Â»Lecoq hat mir schon über alles Wichtige berichtet. Erlauben Sie, daß ich mich sofort ans Werk mache. Meine eigenen Eindrücke sind die besten. Meinungen anderer beeinflussen mich immer zu sehr, ob ich es will oder nicht.«
    Die Augen des sonderbaren Mannes begannen, während er so sprach, wie im Fieber zu glänzen, und er verschwand im Nebenzimmer, ohne, eine Antwort abzuwarten.
    Dort blieb er eine halbe Stunde, kam eilig einmal zum Vorschein, verschwand wieder, erschien noch einmal und noch ein drittes Mal für Sekunden. Er kam Daburon wie ein Jagdhund auf einer Fährte vor. Dabei führte er Gespräche mit sich selbst, gestikulierte, seufzte oder gab Laute der Befriedigung von sich. Lecoq mußte ihm die ganze Zeit über zu Diensten sein, dies und jenes herbeiholen – einmal Papier und Bleistift, dann einen Spaten – und schließlich wollte er Gips und eine Flasche Öl, und mit diesen Utensilien versehen, ging er ins Freie.
    Nach einer Stunde fing der Richter an, ungeduldig zu werden. Er fragte den Wachtmeister, was aus dem Alten geworden sei.
    Â»Er liegt im Straßendreck«, antwortete der, »und hat den Gips in einem Teller angerührt.«
    Als Tabaret bald darauf wieder ins Zimmer trat, sah er fast um zwanzig Jahre jünger aus.
    Lecoq folgte ihm, vorsichtig einen flachen Korb tragend.
    Â»Das wär’s!« rief Tabaret strahlend. »Stell den Korb auf den Tisch, Lecoq.«
    Fast gleichzeitig kam auch Gevrol zurück, mit zufriedener Miene.
    Â»Dem Mann mit den Ohrringen bin ich auf der Spur«, sagte er. »Der Kahn fuhr flußabwärts. Und eine Beschreibung des Kapitäns Gervaise habe ich auch.«
    Â»Und Sie, Vater Tabaret, was haben Sie herausgefunden?« fragte Daburon.
    Tabaret entnahm dem Korb einen Lehmklumpen, ein paar Bogen Papier und einige Stücke Gips, die noch nicht ganz trocken waren.
    Â»Also«, begann er, »ein Raubmord liegt nicht vor.« Und er ließ sich von Gevrol nicht beirren, der entrüstet den Kopf schüttelte. »Der Mörder muß vor halb zehn hier angekommen sein, vor dem Regen. Fußspuren habe ich nicht entdeckt, aber unterm Tisch, wo der Täter seine Füße hatte, lagen Staub und Sandkörner. Die Witwe scheint den Gast nicht erwartet zu haben. Wahrscheinlich wollte sie vorm Zubettgehen ihre Kuckucksuhr aufziehen. Da klopfte es. Es ist ferner wahrscheinlich, daß die Witwe die Uhr jeden Abend vor dem Schlafengehen aufzog, weil solche Uhren höchstens vierzehn Stunden laufen. Der kleine Zeiger aber stand auf der Neun. Wie ist das möglich? Sie muß um diese Zeit den Zeiger angehalten haben, und in dem Augenblick, als sie die Gewichte hochziehen wollte, klopfte es. Auf diesem Stuhl unter der Uhr ist noch die Spur eines Fußes erkennbar. Was die Bekleidung von Madame Lerouge angeht: Sie hatte die Bluse bereits ausgezogen. Um zu öffnen, warf sie sich einen Schal über die Schultern.
    Â»Donnerwetter!« rief der Wachtmeister bewundernd. »Die Frau«, fuhr Tabaret fort, »mußte wissen, wer der Besucher war; sonst hätte sie sich wohl nicht so eilig zur Tür begeben und ihn nicht ohne weiteres eingelassen. Er war ein junger, elegant gekleideter, mittelgroßer Mann mit Zylinder und Regenschirm, der ein Zigarillo aus einer Spitze rauchte.«
    Â»Sonst noch Einzelheiten?« fragte Gevrol spöttisch.
    Â»Es ist nicht meine Schuld«, sagte Vater Tabaret, »wenn Sie weniger gründlich recherchiert haben. Sehen Sie sich diese Gipsform an. Es ist der Abdruck eines Absatzes, den ich nahe der Stelle entdeckte, wo der Schlüssel gefunden wurde. Sie sehen: Es ist der Abdruck eines hohen und schmalen Absatzes von einem eleganten Schuh.
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