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Der Fall (German Edition)

Der Fall (German Edition)

Titel: Der Fall (German Edition)
Autoren: Albert Camus
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einer ehrbaren, aber ruhmlosen Familie (mein Vater war Offizier), und doch fühlte ich mich an manchen Tagen beim Erwachen, demütig sei es bekannt, als Königssohn oder als brennender Busch. Wohlverstanden meine ich damit nicht etwa die mir innewohnende Gewissheit, gescheiter zu sein als alle anderen, eine Überzeugung, die nebenbei bemerkt ohne Bedeutung ist, weil so viele Dummköpfe sie teilen. Aber da mir keine Erfüllung versagt blieb, fühlte ich mich – fast scheue ich mich, es auszusprechen – geradezu auserwählt. Persönlich vor allen Menschen für diesen beständigen und unfehlbaren Erfolg auserwählt. Im Grunde war das ein Ausdruck meiner Bescheidenheit. Ich weigerte mich, diesen Erfolg nur meinen Verdiensten zuzuschreiben, und vermochte nicht zu glauben, die Vereinigung so verschiedener und so vollkommen ausgebildeter Eigenschaften in einer einzigen Person könne ein Ergebnis des bloßen Zufalls sein. Da ich also im Glück lebte, fühlte ich mich irgendwie durch ein höheres Gesetz zu diesem Glück berechtigt. Lassen Sie mich hinzufügen, dass ich keinerlei religiösen Glauben besaß, und Sie werden noch deutlicher erkennen, was diese Überzeugung Außergewöhnliches an sich hatte. Nun, gewöhnlich oder nicht, sie hat mich über den täglichen Kram hinausgehoben, mich buchstäblich schweben lassen, und dies während langer Jahre, denen ich offen gestanden heute noch nachtraure. Ich schwebte bis zu jenem Abend, da … Doch nein, das gehört nicht hierher, und ich sollte es vergessen. Außerdem übertreibe ich vielleicht. Zwar gab es nichts, das mir zu schaffen machte, doch gleichzeitig auch nichts, das mich befriedigte. Jede Freude weckte allsogleich das Verlangen nach einer anderen. Ich reihte Fest an Fest. Es kam vor, dass ich, immer heftiger in die Menschen und in das Leben vernarrt, Nächte durchtanzte. Wenn spät in diesen Nächten der Tanz, der leichte Rausch, meine wilde Ausgelassenheit und das allgemeine hemmungslose Sichgehenlassen mich in einen gleichzeitig abgematteten und beglückten Taumel versetzten, schien mir manchmal im Übermaß der Müdigkeit und eine kurze Sekunde lang, ich verstehe endlich das Geheimnis der Menschen und der Welt. Aber am nächsten Tag verflog die Müdigkeit und mit ihr das Geheimnis, und ich stürzte mich von neuem in den Trubel. So jagte ich dahin, immer erfolgreich, immer unersättlich, ohne zu wissen, wo ich innehalten sollte, bis zum Tag, bis zum Abend vielmehr, da die Musik abbrach, die Lichter erloschen. Das Fest, auf dem ich glücklich gewesen war … Aber wenn es Ihnen recht ist, will ich unseren Freund, den Gorilla, herbemühen. Schenken Sie ihm zum Dank ein Kopfnicken, und dann, vor allem, trinken Sie mit mir, ich habe Ihre Sympathie nötig.
    Diese Versicherung erstaunt Sie, wie ich sehe. Sollten Sie noch nie plötzlich Sympathie, Beistand, Freundschaft nötig gehabt haben? Doch, natürlich. Ich für mein Teil habe gelernt, mich mit der Sympathie zu bescheiden. Sie ist leichter zu finden, und zudem verpflichtet sie zu nichts. Man sagt: «Seien Sie meiner Sympathie versichert», während man bei sich selber denkt: «und jetzt wollen wir zur Tagesordnung übergehen». Es ist ein Gefühl für Ministerpräsidenten, nach jeder Katastrophe billig zu haben. Mit der Freundschaft steht es weniger einfach. Sie zu erringen, ist ein langwieriges und hartes Unterfangen, aber wenn man sie einmal hat, wird man sie nicht mehr los und muss die Folgen tragen. Glauben Sie ja nicht, Ihre Freunde würden, wie sie das eigentlich sollten, jeden Abend anrufen, um sich zu vergewissern, ob Sie sich nicht just an diesem Abend mit Selbstmordgedanken tragen, oder auch bloß, ob Sie nicht Ihrer Gesellschaft bedürfen oder ausgehen möchten. Bewahre! Sie können sich darauf verlassen, dass sie, wenn überhaupt, an dem Abend telefonieren, da Sie nicht einsam sind und das Leben schön finden. Zum Selbstmord würden Ihre Freunde Sie kraft dessen, was Sie ihrer Meinung nach sich selber schuldig sind, eher noch ermutigen. Der Himmel behüte uns davor, Verehrtester, von unseren Freunden auf ein Piedestal gestellt zu werden! Ganz zu schweigen davon, wie die Menschen, die uns sozusagen von Amts wegen lieben sollten, ich meine die Eltern und Anverwandten, sich in dieser Beziehung verhalten! Sie allerdings finden das richtige Wort, oder besser gesagt, das treffende Wort; sie bedienen sich des Telefons wie eines Gewehrs. Und sie zielen gut. Die Meuchler!
    Wie bitte? Welchen Abend? Ach so! Das
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