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Der Fall (German Edition)

Der Fall (German Edition)

Titel: Der Fall (German Edition)
Autoren: Albert Camus
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befand ich mich doch nicht auf der Bühne des Gerichts, sondern irgendwo in den Soffitten, jenen Göttern gleich, die man von Zeit zu Zeit mit Hilfe einer Maschinerie herunterlässt, damit sie der Handlung die entscheidende Wendung und ihren Sinn verleihen. Schließlich und endlich ist das erhöhte Leben noch die einzige Art, von einem möglichst zahlreichen Publikum gesehen und beklatscht zu werden.
    Manche meiner gutartigen Mörder hatten übrigens bei ihrer Tat ähnlichen Gefühlen gehorcht. In der misslichen Lage, in der sie sich anschließend befanden, gewährte das Zeitungslesen ihnen zweifellos eine Art schmerzliche Genugtuung. Wie viele Menschen hatten sie die Namenlosigkeit satt, und zum Teil war es wohl dieser Unmut, der sie zu fatalen Verzweiflungstaten trieb. Um bekannt zu werden, genügt es im Grunde, seine Concierge umzubringen. Unglücklicherweise handelt es sich um eine Eintagsberühmtheit, so zahlreich sind die Conciergen, die das Messer verdienen und bekommen. Das Verbrechen steht immer im Rampenlicht, der Verbrecher jedoch tritt nur flüchtig auf und wird alsbald ersetzt. Überdies müssen diese kurzen Triumphe zu teuer bezahlt werden. Wohingegen die Verteidigung der vom Pech verfolgten Anwärter auf Berühmtheit erlaubte, zur selben Zeit und unter denselben Umständen, aber mit sparsameren Mitteln echte Anerkennung zu erlangen. Das ermutigte mich denn auch, verdienstliche Bemühungen zu entfalten, damit sie möglichst wenig zu bezahlen hatten: was sie bezahlten, beglichen sie ein bisschen an meiner statt. Die Empörung, das Talent, die Rührung, die ich zu diesem Zweck verausgabte, entbanden mich dafür ihnen gegenüber jeder Schuld. Die Richter straften, die Angeklagten sühnten, und ich, jeder Verpflichtung ledig, vom Urteil und seiner Vollziehung gleichermaßen unberührt, herrschte frei in paradiesischem Licht.
    Denn war nicht eben gerade dies das Paradies, Verehrtester: die Tuchfühlung mit dem Leben? Ich besaß sie. Ich habe es nie nötig gehabt, Lebenskunst zu lernen; dieses Wissen wurde mir in die Wiege gelegt. Es gibt Leute, für die die Schwierigkeit darin besteht, sich die Mitmenschen vom Leibe zu halten oder zumindest irgendwie mit ihnen zurechtzukommen. Für mich war das kein Problem. Ich war vertraulich zur rechten Zeit, schweigsam, wenn es nottat, der heiteren Ungezwungenheit ebenso fähig wie der würdigen Förmlichkeit, und traf immer den richtigen Ton. Ich war denn auch sehr beliebt und hatte zahllose gesellschaftliche Erfolge. Ich besaß ein angenehmes Äußeres, erwies mich sowohl unermüdlich beim Tanzen als auch unaufdringlich gebildet im Gespräch, ich brachte es fertig, gleichzeitig die Frauen und die Gerechtigkeit zu lieben, was gar nicht einfach ist, ich betrieb Sport und war den schönen Künsten zugetan, kurzum, ich will nicht weiterfahren, sonst könnten Sie mich am Ende der Selbstgefälligkeit zeihen. Stellen Sie sich also einen Mann in den besten Jahren vor, der sich einer ausgezeichneten Gesundheit erfreut und glänzend begabt ist, geschickt in den Übungen des Körpers wie in denen des Geistes, weder arm noch reich, der gut schläft und zutiefst zufrieden ist mit sich selber, ohne dies jedoch anders zu zeigen als durch eine heitere Umgänglichkeit. Dann werden Sie zugeben, dass ich in aller Bescheidenheit von einem geglückten Leben sprechen darf.
    Wahrhaftig, ich besaß eine unvergleichliche Natürlichkeit. Mein Einklang mit dem Leben war vollkommen; ich bekannte mich zu allen seinen Erscheinungsformen, von der höchsten bis zur niedrigsten, und lehnte nichts ab, weder seine Ironie noch seine Größe noch seine Knechtschaft. Insbesondere schenkte mir das Fleisch, die Materie, mit einem Wort das Physische, das so vielen Menschen in der Liebe oder in der Einsamkeit Verwirrung oder Mutlosigkeit bringt, ausgewogene Freuden, die mich nie versklavten. Ich war dazu geschaffen, einen Leib zu haben. Daher meine innere Ausgeglichenheit, diese zwanglose Überlegenheit, die die Leute spürten und von der sie mir manchmal gestanden, dass sie ihnen helfe, leichter mit dem Leben fertig zu werden. Man suchte deshalb Umgang mit mir zu pflegen. Oft glaubte man zum Beispiel, mich schon zu kennen. Das Leben, seine Geschöpfe und seine Gaben strömten mir von selber zu, und ich nahm die Huldigungen mit leutseligem Stolz entgegen. Da ich so rückhaltlos und mit solcher Selbstverständlichkeit Mensch war, kam ich mir im Grunde genommen ein wenig als Übermensch vor.
    Ich stamme aus
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