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Der Fall (German Edition)

Der Fall (German Edition)

Titel: Der Fall (German Edition)
Autoren: Albert Camus
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verloren, die Morgenröte, die heilige Unschuld dessen, der sich selbst vergibt.
    Schauen Sie bloß, es schneit! Oh, ich muss hinaus! Das schlafende Amsterdam in der Weiße der Nacht, die Kanäle wie dunkle Jade unter den verschneiten Brückchen, die menschenleeren Straßen, mein lautloser Schritt – die flüchtige Reinheit vor dem morgigen Kot. Sehen Sie die riesigen Flocken, die zerzaust an den Fensterscheiben zerklatschen? Das sind die Tauben, kein Zweifel. Endlich entschließen sie sich, herabzufahren, die Viellieben, sie bedecken Wasser und Dächer mit einer mächtigen Schicht von Federn, sie flattern vor allen Fenstern. Welch eine Invasion! Hoffen wir, dass sie die frohe Botschaft bringen. Alle Welt errettet, was! Nicht nur die Erwählten! Reichtum und Mühsal gerecht verteilt, und Sie zum Beispiel werden von heute an um meinetwillen auf dem blanken Fußboden schlafen. Mit einem Wort, alle Saiten der Leier! Kommen Sie, geben Sie schon zu, dass Ihnen vor Staunen der Mund offen bliebe, wenn plötzlich ein Wagen vom Himmel käme, um mich zu holen, oder wenn auf einmal der Schnee zu brennen anfinge. Das scheint Ihnen unwahrscheinlich? Mir auch. Aber hinaus muss ich doch.
    Schon gut, ich bleibe ja liegen, regen Sie sich nicht auf! Trauen Sie übrigens meinen rührseligen Anwandlungen nicht zu sehr, so wenig wie meinen wilden Wahnreden: Beide verfolgen eine Absicht. So werde ich jetzt gleich erfahren, sobald Sie von sich selbst zu sprechen beginnen, ob eines der Ziele meiner atemraubenden Beichte erreicht ist. Ich hoffe nämlich immer, dass einer meiner Gesprächspartner sich einmal als Polizist entpuppen und mich für den Diebstahl der Unbestechlichen Richter verhaften wird. Sonst, Sie verstehen, gibt es keine Möglichkeit, mich festzunehmen. Dieser Diebstahl jedoch fällt unter die Bestimmungen des Strafgesetzbuches, und ich habe nichts unterlassen, um mich zum Mitschuldigen zu machen. Ich bin der Hehler dieses Bildes und zeige es vor, sooft ich nur kann. Angenommen, Sie verhaften mich, das wäre schon ein guter Anfang. Vielleicht würde man sich dann auch mit allem Übrigen befassen und mich beispielsweise enthaupten; ich aber hätte keine Angst mehr vor dem Sterben und wäre gerettet. Dann würden Sie meinen noch lebenswarmen Kopf über das versammelte Volk erheben, auf dass es sich in ihm erkenne und ich es abermals beispielhaft beherrsche. So wäre denn alles vollbracht, und ich hätte meine Laufbahn als falscher Prophet, der in der Wüste ruft und sich weigert, sie zu verlassen, ganz unversehens beendet.
    Aber natürlich sind Sie nicht von der Polizei, das wäre viel zu einfach. Wie bitte? Also doch! Irgendwie habe ich es geahnt. Die seltsame Zuneigung, die ich für Sie empfand, hatte demnach ihren Sinn. Sie üben in Paris den schönen Beruf eines Anwalts aus! Ich spürte genau, dass wir beide einer Art sind. Denn sind wir uns nicht alle gleich, die wir unablässig reden, und zwar ins Leere, die wir Tag für Tag die gleichen Fragen vorgelegt bekommen, obwohl wir die Antwort im Voraus kennen? So erzählen Sie mir doch bitte, was Ihnen eines Abends am Ufer der Seine widerfahren ist und wie Sie es fertiggebracht haben, Ihr Leben nie aufs Spiel zu setzen. Sprechen Sie selbst die Worte aus, die seit Jahren nicht aufgehört haben, in meinen Nächten zu widerhallen, und die ich letztlich durch Ihren Mund sprechen will: «O Mädchen, stürze dich nochmals ins Wasser, damit ich ein zweites Mal Gelegenheit habe, uns beide zu retten!» Ein zweites Mal, ha! welch ein Leichtsinn! Stellen Sie sich doch vor, lieber Herr Kollege, man nähme uns beim Wort! Dann müssten wir ja springen! Brr, das Wasser ist so kalt! Aber keine Bange! Jetzt ist es zu spät, es wird immer zu spät sein. Zum Glück!

Informationen zum Buch
    «Wenn die Zuhälter und Diebe immer und überall verurteilt würden, hielten sich ja alle rechtschaffenen Leute ständig für unschuldig! Und meiner Meinung nach muss gerade das verhindert werden.»
    In einer atemberaubenden Beichte bekennt ein im Amsterdamer Hafenviertel untergetauchter Staranwalt Selbstgefälligkeit und Opportunismus als Triebfedern seines einstigen Rechtsbewusstseins. Für diesen Roman erhielt Albert Camus den Nobelpreis.

Informationen zum Autor
    Albert Camus, geboren am 7. November 1913 als Sohn einer Spanierin und eines Elsässers in Mondovi (Algerien), studierte von 1933 bis 1936 an der Universität Algier Philosophie. 1934 trat er der Kommunistischen Partei Algeriens bei, brach
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